Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

uns hier eine edle und anziehende Lektüre. Die Verschlingung der Fäden
ist so kunstreich als sicher, die Charaktere, in klare Gruppen vertheilt, über¬
schreiten nie die Grenze, wodurch die schöne Haltung, das Maaß und der
stetige Fluß des Ganzen bedingt sind. Zwei Familiengeschichten, in deren
Grundanlage eine fast symmetrische Ähnlichkeit sich ausdrückt, bilden, wie
zwei ungleiche und doch entsprechende Hälften eines Blattes, ein Ganzes,
dessen Verlauf uns in das Getriebe des menschlichen Herzens, in spannende
Zustände der Familien führt. Liebe, Leidenschaft, Gewissen, Glück entfal-
ten hier ihre Macht. Die Natur spielt leise hinein, ohne daß ausgedehnte
Schilderungen, wie dies in unserer Novellenliteratur so gewöhnlich ist, uns
von dem Hauptinteresse, welches auf den Personen ruhet, abziehen. Der
besonnene Ausbau der Erzählung bewirkt es, daß wir die Figuren,
auf denen unsre Theilnahme ruht, in verschiedener Beleuchtung erblicken.
Die versammelte Familie erfreut sich zuerst selbst am Erzählen von Schick¬
salen, deren Sinn bald in nähere Beziehung zu derselben zu treten
scheint; noch zweifeln wir, ob die, welche wir als heitere Zuhörer
kennen gelernt haben, nicht die Hauptpersonen einer neuen Handlung
werden, bis auch sie in den Strom einer entscheidenden Lebenswendung
verflochten werden. So tritt in dieser Novelle die Dichtung mit der Wahr¬
heit in ein geistreiches Wechselspiel, verschiedene Lebenssphären verschlingen
sich, das Bild wird zum Erlebnis, sowie manchmal umgekehrt dem Dich¬
ter ein Eigenes, ein Theil seines Lebens, zu freier, künstlerischer Erschei¬
nung sich herausbildet.

Th. Schliephake.


32*

uns hier eine edle und anziehende Lektüre. Die Verschlingung der Fäden
ist so kunstreich als sicher, die Charaktere, in klare Gruppen vertheilt, über¬
schreiten nie die Grenze, wodurch die schöne Haltung, das Maaß und der
stetige Fluß des Ganzen bedingt sind. Zwei Familiengeschichten, in deren
Grundanlage eine fast symmetrische Ähnlichkeit sich ausdrückt, bilden, wie
zwei ungleiche und doch entsprechende Hälften eines Blattes, ein Ganzes,
dessen Verlauf uns in das Getriebe des menschlichen Herzens, in spannende
Zustände der Familien führt. Liebe, Leidenschaft, Gewissen, Glück entfal-
ten hier ihre Macht. Die Natur spielt leise hinein, ohne daß ausgedehnte
Schilderungen, wie dies in unserer Novellenliteratur so gewöhnlich ist, uns
von dem Hauptinteresse, welches auf den Personen ruhet, abziehen. Der
besonnene Ausbau der Erzählung bewirkt es, daß wir die Figuren,
auf denen unsre Theilnahme ruht, in verschiedener Beleuchtung erblicken.
Die versammelte Familie erfreut sich zuerst selbst am Erzählen von Schick¬
salen, deren Sinn bald in nähere Beziehung zu derselben zu treten
scheint; noch zweifeln wir, ob die, welche wir als heitere Zuhörer
kennen gelernt haben, nicht die Hauptpersonen einer neuen Handlung
werden, bis auch sie in den Strom einer entscheidenden Lebenswendung
verflochten werden. So tritt in dieser Novelle die Dichtung mit der Wahr¬
heit in ein geistreiches Wechselspiel, verschiedene Lebenssphären verschlingen
sich, das Bild wird zum Erlebnis, sowie manchmal umgekehrt dem Dich¬
ter ein Eigenes, ein Theil seines Lebens, zu freier, künstlerischer Erschei¬
nung sich herausbildet.

Th. Schliephake.


32*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/179634" facs="#f0251" n="243"/>
          <p>uns hier eine edle und anziehende Lektüre. Die Verschlingung der Fäden<lb/>
ist so kunstreich als sicher, die Charaktere, in klare Gruppen vertheilt, über¬<lb/>
schreiten nie die Grenze, wodurch die schöne Haltung, das Maaß und der<lb/>
stetige Fluß des Ganzen bedingt sind. Zwei Familiengeschichten, in deren<lb/>
Grundanlage eine fast symmetrische Ähnlichkeit sich ausdrückt, bilden, wie<lb/>
zwei ungleiche und doch entsprechende Hälften eines Blattes, ein Ganzes,<lb/>
dessen Verlauf uns in das Getriebe des menschlichen Herzens, in spannende<lb/>
Zustände der Familien führt. Liebe, Leidenschaft, Gewissen, Glück entfal-<lb/>
ten hier ihre Macht. Die Natur spielt leise hinein, ohne daß ausgedehnte<lb/>
Schilderungen, wie dies in unserer Novellenliteratur so gewöhnlich ist, uns<lb/>
von dem Hauptinteresse, welches auf den Personen ruhet, abziehen. Der<lb/>
besonnene Ausbau der Erzählung bewirkt es, daß wir die Figuren,<lb/>
auf denen unsre Theilnahme ruht, in verschiedener Beleuchtung erblicken.<lb/>
Die versammelte Familie erfreut sich zuerst selbst am Erzählen von Schick¬<lb/>
salen, deren Sinn bald in nähere Beziehung zu derselben zu treten<lb/>
scheint; noch zweifeln wir, ob die, welche wir als heitere Zuhörer<lb/>
kennen gelernt haben, nicht die Hauptpersonen einer neuen Handlung<lb/>
werden, bis auch sie in den Strom einer entscheidenden Lebenswendung<lb/>
verflochten werden. So tritt in dieser Novelle die Dichtung mit der Wahr¬<lb/>
heit in ein geistreiches Wechselspiel, verschiedene Lebenssphären verschlingen<lb/>
sich, das Bild wird zum Erlebnis, sowie manchmal umgekehrt dem Dich¬<lb/>
ter ein Eigenes, ein Theil seines Lebens, zu freier, künstlerischer Erschei¬<lb/>
nung sich herausbildet.</p><lb/>
          <bibl>Th. Schliephake.</bibl>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <fw place="bottom" type="sig">32*</fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[243/0251] uns hier eine edle und anziehende Lektüre. Die Verschlingung der Fäden ist so kunstreich als sicher, die Charaktere, in klare Gruppen vertheilt, über¬ schreiten nie die Grenze, wodurch die schöne Haltung, das Maaß und der stetige Fluß des Ganzen bedingt sind. Zwei Familiengeschichten, in deren Grundanlage eine fast symmetrische Ähnlichkeit sich ausdrückt, bilden, wie zwei ungleiche und doch entsprechende Hälften eines Blattes, ein Ganzes, dessen Verlauf uns in das Getriebe des menschlichen Herzens, in spannende Zustände der Familien führt. Liebe, Leidenschaft, Gewissen, Glück entfal- ten hier ihre Macht. Die Natur spielt leise hinein, ohne daß ausgedehnte Schilderungen, wie dies in unserer Novellenliteratur so gewöhnlich ist, uns von dem Hauptinteresse, welches auf den Personen ruhet, abziehen. Der besonnene Ausbau der Erzählung bewirkt es, daß wir die Figuren, auf denen unsre Theilnahme ruht, in verschiedener Beleuchtung erblicken. Die versammelte Familie erfreut sich zuerst selbst am Erzählen von Schick¬ salen, deren Sinn bald in nähere Beziehung zu derselben zu treten scheint; noch zweifeln wir, ob die, welche wir als heitere Zuhörer kennen gelernt haben, nicht die Hauptpersonen einer neuen Handlung werden, bis auch sie in den Strom einer entscheidenden Lebenswendung verflochten werden. So tritt in dieser Novelle die Dichtung mit der Wahr¬ heit in ein geistreiches Wechselspiel, verschiedene Lebenssphären verschlingen sich, das Bild wird zum Erlebnis, sowie manchmal umgekehrt dem Dich¬ ter ein Eigenes, ein Theil seines Lebens, zu freier, künstlerischer Erschei¬ nung sich herausbildet. Th. Schliephake. 32*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-11-19T17:23:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Bayerische Staatbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Signatur Per 61 k-1). (2013-11-19T17:23:38Z)

Weitere Informationen:

Art der Texterfassung: OCR.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/251
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/251>, abgerufen am 22.11.2024.