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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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Worin liegen sie? Kein Zwang, keine Verführung kann bei unsern gesell¬
schaftlichen Verhältnissen so viele Personen bewogen haben, das gemeinsame
dem individuellen Leben vorzuziehen. Es ist dieß eine Handlung, deren wesent¬
licher Charakter die freie Wahl ist und der Umstand, daß so viele Personen bei¬
derlei Geschlechts ohne Furcht und Bedauern diese Lebensart wählen, beweist,
daß sie der Beruf Vieler ist. Gewiß, es giebt manche noch stärkere Nei¬
gung, als die welche durch die Eingebungen der Selbstsucht hervorgerufen
sind. Warum hemmt man die Befriedigung dieser Neigungen, da sie doch
Niemanden schaden? Was schaden der Welt jene arme Mädchen, die ihre
Jugend und ihre alte Tage vor Gefahren schützen wollen und jene fleißigen
Einsiedler, die blos die Erlaubniß begehren, im Schweiße ihrer Arbeit
leben zu dürfen, oder jene barmherzigen Brüder und Schwestern
oder die Priester, die ihr Leben der Verbreitung des Christenthums unter
barbarische Völker widmen oder das Evangelium im Vaterlande zu predi¬
gen oder die ihnen von den Eltern anvertraute Jugend zu erziehen? Ge¬
hört das Zusammenleben mit Gleichgesinnten nicht auch zu den Menschen-
rechten, für die man seit fünfzig Jahren zu kämpfen glaubt? Warum soll
ein armes Mädchen, das nicht heirathen und keinen Freund auf Erden fin¬
den kann, nicht ihre 1000 Thaler einer Familie geben dürfen, wo sie als
Tochter und Schwester aufgenommen wird, wo sie Nahrung, Wohnung und
Trost findet, und wo man ihr zu ihrer größten Sicherheit die Liebe zu
dem Gotte einflößt, der ganz die Wahrheit ist? Mögen also die Leute der
Welt, die niemals die Leiden derselben gefühlt haben, andern ein Asyl nicht
nehmen, das für unverletzbar gelten würde, wenn es dazu diente, eine
Laune der Sinnlichkeit zu befriedigen."

-- Seit vierzig Jahren trugen die religiösen Verbrüderungen in
Frankreich einen so reinen und vollkommnen Charakter an sich, daß eine
große Undankbarkeit dazu gehört, um ihnen die Fehler einer dahingeschwun¬
denen Zeit nachzutragen. Frankreichs Ruhm in den letzten vierzig Jahren
besteht darin, daß es Dinge wieder neu erschaffen hat, die niemals wieder
untergehen sollen. Man sage also nicht: Frankreich sei zu Grunde gerich¬
tet, weil alles wieder ersteht, was es zerstört hat. Im Gegentheil, es
siegt, weil die Keime noch da sind, deren Vernichtung mir eine unfrucht¬
bare Einöde aus seinem Boden gemacht haben würde, und weil diese Keime
sich nach anderen Verhältnissen frisch und neu entwickeln. Wer Keime ver¬
nichten will, der säet den Tod, seine Arbeit ist eitel, weil Gott, der dem
Menschen die einzelnen Gegenstände überliefert hat, ihm keine Macht über
deren Urquell verleiht. Die Natur spottet jener Projectenmacher, die da glau¬
ben, Wesenheiten zu ändern, und durch ein Gesetz die Eiche oder das Mönch-
thum vernichten zu können. Die Eiche und das Mönchthum dauern ewig.

Worin liegen sie? Kein Zwang, keine Verführung kann bei unsern gesell¬
schaftlichen Verhältnissen so viele Personen bewogen haben, das gemeinsame
dem individuellen Leben vorzuziehen. Es ist dieß eine Handlung, deren wesent¬
licher Charakter die freie Wahl ist und der Umstand, daß so viele Personen bei¬
derlei Geschlechts ohne Furcht und Bedauern diese Lebensart wählen, beweist,
daß sie der Beruf Vieler ist. Gewiß, es giebt manche noch stärkere Nei¬
gung, als die welche durch die Eingebungen der Selbstsucht hervorgerufen
sind. Warum hemmt man die Befriedigung dieser Neigungen, da sie doch
Niemanden schaden? Was schaden der Welt jene arme Mädchen, die ihre
Jugend und ihre alte Tage vor Gefahren schützen wollen und jene fleißigen
Einsiedler, die blos die Erlaubniß begehren, im Schweiße ihrer Arbeit
leben zu dürfen, oder jene barmherzigen Brüder und Schwestern
oder die Priester, die ihr Leben der Verbreitung des Christenthums unter
barbarische Völker widmen oder das Evangelium im Vaterlande zu predi¬
gen oder die ihnen von den Eltern anvertraute Jugend zu erziehen? Ge¬
hört das Zusammenleben mit Gleichgesinnten nicht auch zu den Menschen-
rechten, für die man seit fünfzig Jahren zu kämpfen glaubt? Warum soll
ein armes Mädchen, das nicht heirathen und keinen Freund auf Erden fin¬
den kann, nicht ihre 1000 Thaler einer Familie geben dürfen, wo sie als
Tochter und Schwester aufgenommen wird, wo sie Nahrung, Wohnung und
Trost findet, und wo man ihr zu ihrer größten Sicherheit die Liebe zu
dem Gotte einflößt, der ganz die Wahrheit ist? Mögen also die Leute der
Welt, die niemals die Leiden derselben gefühlt haben, andern ein Asyl nicht
nehmen, das für unverletzbar gelten würde, wenn es dazu diente, eine
Laune der Sinnlichkeit zu befriedigen.“

— Seit vierzig Jahren trugen die religiösen Verbrüderungen in
Frankreich einen so reinen und vollkommnen Charakter an sich, daß eine
große Undankbarkeit dazu gehört, um ihnen die Fehler einer dahingeschwun¬
denen Zeit nachzutragen. Frankreichs Ruhm in den letzten vierzig Jahren
besteht darin, daß es Dinge wieder neu erschaffen hat, die niemals wieder
untergehen sollen. Man sage also nicht: Frankreich sei zu Grunde gerich¬
tet, weil alles wieder ersteht, was es zerstört hat. Im Gegentheil, es
siegt, weil die Keime noch da sind, deren Vernichtung mir eine unfrucht¬
bare Einöde aus seinem Boden gemacht haben würde, und weil diese Keime
sich nach anderen Verhältnissen frisch und neu entwickeln. Wer Keime ver¬
nichten will, der säet den Tod, seine Arbeit ist eitel, weil Gott, der dem
Menschen die einzelnen Gegenstände überliefert hat, ihm keine Macht über
deren Urquell verleiht. Die Natur spottet jener Projectenmacher, die da glau¬
ben, Wesenheiten zu ändern, und durch ein Gesetz die Eiche oder das Mönch-
thum vernichten zu können. Die Eiche und das Mönchthum dauern ewig.

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[144/0152] Worin liegen sie? Kein Zwang, keine Verführung kann bei unsern gesell¬ schaftlichen Verhältnissen so viele Personen bewogen haben, das gemeinsame dem individuellen Leben vorzuziehen. Es ist dieß eine Handlung, deren wesent¬ licher Charakter die freie Wahl ist und der Umstand, daß so viele Personen bei¬ derlei Geschlechts ohne Furcht und Bedauern diese Lebensart wählen, beweist, daß sie der Beruf Vieler ist. Gewiß, es giebt manche noch stärkere Nei¬ gung, als die welche durch die Eingebungen der Selbstsucht hervorgerufen sind. Warum hemmt man die Befriedigung dieser Neigungen, da sie doch Niemanden schaden? Was schaden der Welt jene arme Mädchen, die ihre Jugend und ihre alte Tage vor Gefahren schützen wollen und jene fleißigen Einsiedler, die blos die Erlaubniß begehren, im Schweiße ihrer Arbeit leben zu dürfen, oder jene barmherzigen Brüder und Schwestern oder die Priester, die ihr Leben der Verbreitung des Christenthums unter barbarische Völker widmen oder das Evangelium im Vaterlande zu predi¬ gen oder die ihnen von den Eltern anvertraute Jugend zu erziehen? Ge¬ hört das Zusammenleben mit Gleichgesinnten nicht auch zu den Menschen- rechten, für die man seit fünfzig Jahren zu kämpfen glaubt? Warum soll ein armes Mädchen, das nicht heirathen und keinen Freund auf Erden fin¬ den kann, nicht ihre 1000 Thaler einer Familie geben dürfen, wo sie als Tochter und Schwester aufgenommen wird, wo sie Nahrung, Wohnung und Trost findet, und wo man ihr zu ihrer größten Sicherheit die Liebe zu dem Gotte einflößt, der ganz die Wahrheit ist? Mögen also die Leute der Welt, die niemals die Leiden derselben gefühlt haben, andern ein Asyl nicht nehmen, das für unverletzbar gelten würde, wenn es dazu diente, eine Laune der Sinnlichkeit zu befriedigen.“ — Seit vierzig Jahren trugen die religiösen Verbrüderungen in Frankreich einen so reinen und vollkommnen Charakter an sich, daß eine große Undankbarkeit dazu gehört, um ihnen die Fehler einer dahingeschwun¬ denen Zeit nachzutragen. Frankreichs Ruhm in den letzten vierzig Jahren besteht darin, daß es Dinge wieder neu erschaffen hat, die niemals wieder untergehen sollen. Man sage also nicht: Frankreich sei zu Grunde gerich¬ tet, weil alles wieder ersteht, was es zerstört hat. Im Gegentheil, es siegt, weil die Keime noch da sind, deren Vernichtung mir eine unfrucht¬ bare Einöde aus seinem Boden gemacht haben würde, und weil diese Keime sich nach anderen Verhältnissen frisch und neu entwickeln. Wer Keime ver¬ nichten will, der säet den Tod, seine Arbeit ist eitel, weil Gott, der dem Menschen die einzelnen Gegenstände überliefert hat, ihm keine Macht über deren Urquell verleiht. Die Natur spottet jener Projectenmacher, die da glau¬ ben, Wesenheiten zu ändern, und durch ein Gesetz die Eiche oder das Mönch- thum vernichten zu können. Die Eiche und das Mönchthum dauern ewig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/152>, abgerufen am 24.11.2024.