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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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ihres Herzens, ihrer Sinne und Leidenschaften, kurz, ihres ganzen Seins,
zu Gunsten eines Individuums, das in Wahrheit über dieses Reich herrscht,
und dieses Volk nach Willkühr unterjocht. Der Gott, der von seinem Him¬
mel herabzusteigen geruht, braucht sich nur zu zeigen, und auf jedem seiner
Schritte kömmt Anbetung und Vergötterung ihm entgegen. Und ist das
Fest geendet, und sind die Lichter ausgelöscht, folgt ihm, der so eben noch
Halbgott war. Eine glänzende Karosse bringt ihn in üppige Gemächer,
wo er stolz ausruht von seinen süßen Strapazen, und Beifall und Ruhm
träumend, einschläft. Und damit an diesen, ganz lehensherrlichen Vor¬
rechten nichts fehle, so bezahlt ihm eine fast fürstliche Civilliste reichlich
alle ihm erwiesenen Ehrenbezeugungen.

Fragen wir uns aufrichtig, ob unter den begünstigsten Classen, auf
den Höhepunkten der Gesellschaft irgend eine also verschönte und blühende
Existenz anzutreffen ist, wie die des Theatermenschen. Umsonst sucht man
auf der Stufenleiter der Hierarchie, umsonst in allen Ständen und Lebens-
verhältnissen, nirgends findet sich ein Beispiel von so viel Gedeihen, Gunst
und Genuß. Nicht der General, nicht der Staatsmann, nicht der Rechts-
gelehrte, nicht der Professor, nicht der Schriftsteller, nicht der Künstler,
genießt ein Loos, das sich mit dem des Schauspielers und Sängers ver¬
gleichen läßt. Kein Lebensberuf bietet von Anfang an so glückliche Hoff¬
nungen dar und läßt so wenig Widerwärtigkeiten befürchten. Ist denn
wirklich das Verdienst des Säugers erhabener als alle andern Verdienste?
Ist wirklich der Nutzen einer Tänzerin größer, als die Dienste, welche die
größten Bürger dem Staate je geleistet haben?

Berechnen wir ruhig, worin besteht im Reiche der Kunst die Geistes-
that des Schauspielers und Sängers? Rechnet man einige dieser seltenen
dramatischen Erscheinungen hinweg, die, wie Talma uud die Malibran,
sich in einem Sprunge den schöpferischen Genies gleichstellten, so muß
man sich selbst gestehen, ihr Beruf ist ein untergeordneter. Sie übersetzen
uns einen Gedanken, der ihnen nicht angehört. Sie machen die geheimniß-
vollen Schöpfungen des Genius unserm Geiste begreiflich und führen sie
unsern Sinnen vor. Wohl! Aber dieser Beruf unterscheidet sie nur wenig von
jenem, welcher versteht einen Gedanken aus einer unbekannten in eine be¬
kannte Sprache zu übertragen, aus einer dunkeln und stummen Form in
eine concrete und lebendige. Sie sind ungefähr das, was der Colorist sein
muß, der eine ihm gegebene Zeichnung mit Farben überzieht. Ihre Kunst
ist nur eine secundäre. Ueber ihnen, weit über ihnen, stehen die auser-
wählten Geister, die selbst ein originelles Werk erfinden. Von diesen un¬
mittelbaren Erzeugern des Gedankens schreibt sich offenbar die erste Ursache
unserer Rührung, die uranfängliche Entwickelung unserer Einsicht her. Und

ihres Herzens, ihrer Sinne und Leidenschaften, kurz, ihres ganzen Seins,
zu Gunsten eines Individuums, das in Wahrheit über dieses Reich herrscht,
und dieses Volk nach Willkühr unterjocht. Der Gott, der von seinem Him¬
mel herabzusteigen geruht, braucht sich nur zu zeigen, und auf jedem seiner
Schritte kömmt Anbetung und Vergötterung ihm entgegen. Und ist das
Fest geendet, und sind die Lichter ausgelöscht, folgt ihm, der so eben noch
Halbgott war. Eine glänzende Karosse bringt ihn in üppige Gemächer,
wo er stolz ausruht von seinen süßen Strapazen, und Beifall und Ruhm
träumend, einschläft. Und damit an diesen, ganz lehensherrlichen Vor¬
rechten nichts fehle, so bezahlt ihm eine fast fürstliche Civilliste reichlich
alle ihm erwiesenen Ehrenbezeugungen.

Fragen wir uns aufrichtig, ob unter den begünstigsten Classen, auf
den Höhepunkten der Gesellschaft irgend eine also verschönte und blühende
Existenz anzutreffen ist, wie die des Theatermenschen. Umsonst sucht man
auf der Stufenleiter der Hierarchie, umsonst in allen Ständen und Lebens-
verhältnissen, nirgends findet sich ein Beispiel von so viel Gedeihen, Gunst
und Genuß. Nicht der General, nicht der Staatsmann, nicht der Rechts-
gelehrte, nicht der Professor, nicht der Schriftsteller, nicht der Künstler,
genießt ein Loos, das sich mit dem des Schauspielers und Sängers ver¬
gleichen läßt. Kein Lebensberuf bietet von Anfang an so glückliche Hoff¬
nungen dar und läßt so wenig Widerwärtigkeiten befürchten. Ist denn
wirklich das Verdienst des Säugers erhabener als alle andern Verdienste?
Ist wirklich der Nutzen einer Tänzerin größer, als die Dienste, welche die
größten Bürger dem Staate je geleistet haben?

Berechnen wir ruhig, worin besteht im Reiche der Kunst die Geistes-
that des Schauspielers und Sängers? Rechnet man einige dieser seltenen
dramatischen Erscheinungen hinweg, die, wie Talma uud die Malibran,
sich in einem Sprunge den schöpferischen Genies gleichstellten, so muß
man sich selbst gestehen, ihr Beruf ist ein untergeordneter. Sie übersetzen
uns einen Gedanken, der ihnen nicht angehört. Sie machen die geheimniß-
vollen Schöpfungen des Genius unserm Geiste begreiflich und führen sie
unsern Sinnen vor. Wohl! Aber dieser Beruf unterscheidet sie nur wenig von
jenem, welcher versteht einen Gedanken aus einer unbekannten in eine be¬
kannte Sprache zu übertragen, aus einer dunkeln und stummen Form in
eine concrete und lebendige. Sie sind ungefähr das, was der Colorist sein
muß, der eine ihm gegebene Zeichnung mit Farben überzieht. Ihre Kunst
ist nur eine secundäre. Ueber ihnen, weit über ihnen, stehen die auser-
wählten Geister, die selbst ein originelles Werk erfinden. Von diesen un¬
mittelbaren Erzeugern des Gedankens schreibt sich offenbar die erste Ursache
unserer Rührung, die uranfängliche Entwickelung unserer Einsicht her. Und

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[134/0142] ihres Herzens, ihrer Sinne und Leidenschaften, kurz, ihres ganzen Seins, zu Gunsten eines Individuums, das in Wahrheit über dieses Reich herrscht, und dieses Volk nach Willkühr unterjocht. Der Gott, der von seinem Him¬ mel herabzusteigen geruht, braucht sich nur zu zeigen, und auf jedem seiner Schritte kömmt Anbetung und Vergötterung ihm entgegen. Und ist das Fest geendet, und sind die Lichter ausgelöscht, folgt ihm, der so eben noch Halbgott war. Eine glänzende Karosse bringt ihn in üppige Gemächer, wo er stolz ausruht von seinen süßen Strapazen, und Beifall und Ruhm träumend, einschläft. Und damit an diesen, ganz lehensherrlichen Vor¬ rechten nichts fehle, so bezahlt ihm eine fast fürstliche Civilliste reichlich alle ihm erwiesenen Ehrenbezeugungen. Fragen wir uns aufrichtig, ob unter den begünstigsten Classen, auf den Höhepunkten der Gesellschaft irgend eine also verschönte und blühende Existenz anzutreffen ist, wie die des Theatermenschen. Umsonst sucht man auf der Stufenleiter der Hierarchie, umsonst in allen Ständen und Lebens- verhältnissen, nirgends findet sich ein Beispiel von so viel Gedeihen, Gunst und Genuß. Nicht der General, nicht der Staatsmann, nicht der Rechts- gelehrte, nicht der Professor, nicht der Schriftsteller, nicht der Künstler, genießt ein Loos, das sich mit dem des Schauspielers und Sängers ver¬ gleichen läßt. Kein Lebensberuf bietet von Anfang an so glückliche Hoff¬ nungen dar und läßt so wenig Widerwärtigkeiten befürchten. Ist denn wirklich das Verdienst des Säugers erhabener als alle andern Verdienste? Ist wirklich der Nutzen einer Tänzerin größer, als die Dienste, welche die größten Bürger dem Staate je geleistet haben? Berechnen wir ruhig, worin besteht im Reiche der Kunst die Geistes- that des Schauspielers und Sängers? Rechnet man einige dieser seltenen dramatischen Erscheinungen hinweg, die, wie Talma uud die Malibran, sich in einem Sprunge den schöpferischen Genies gleichstellten, so muß man sich selbst gestehen, ihr Beruf ist ein untergeordneter. Sie übersetzen uns einen Gedanken, der ihnen nicht angehört. Sie machen die geheimniß- vollen Schöpfungen des Genius unserm Geiste begreiflich und führen sie unsern Sinnen vor. Wohl! Aber dieser Beruf unterscheidet sie nur wenig von jenem, welcher versteht einen Gedanken aus einer unbekannten in eine be¬ kannte Sprache zu übertragen, aus einer dunkeln und stummen Form in eine concrete und lebendige. Sie sind ungefähr das, was der Colorist sein muß, der eine ihm gegebene Zeichnung mit Farben überzieht. Ihre Kunst ist nur eine secundäre. Ueber ihnen, weit über ihnen, stehen die auser- wählten Geister, die selbst ein originelles Werk erfinden. Von diesen un¬ mittelbaren Erzeugern des Gedankens schreibt sich offenbar die erste Ursache unserer Rührung, die uranfängliche Entwickelung unserer Einsicht her. Und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/142>, abgerufen am 25.11.2024.