§ 1. Unter der allgemeinen Formenlehre verstehen wir die- jenige Reihe von Wahrheiten, welche sich auf alle Zweige der Mathematik auf gleiche Weise beziehen, und daher nur die allge- meinen Begriffe der Gleichheit und Verschiedenheit, der Ver- knüpfung und Sonderung voraussetzen. Es müsste daher die all- gemeine Formenlehre allen speciellen Zweigen der Mathematik vorangehen *); da aber jener allgemeine Zweig noch nicht als solcher vorhanden ist, und wir ihn doch nicht, ohne uns in un- nütze Weitläuftigkeiten zu verwickeln, übergehen dürfen, so bleibt uns nichts übrig, als denselben hier so weit zu entwickeln, wie wir seiner für unsere Wissenschaft bedürfen. Es ist hier zuerst der Begriff der Gleichheit und Verschiedenheit festzustellen. Da das Gleiche nothwendig, auch schon damit nur die Zweiheit her- austritt, als Verschiedenes, und das Verschiedene auch als Gleiches erscheinen muss, nur in verschiedener Hinsicht **), so scheint es bei oberflächlicher Betrachtung nöthig, verschiedene Beziehungen der Gleichheit und Verschiedenheit aufzustellen; so würde z. B. bei Vergleichung zweier begränzter Linien die Gleichheit der Richtung oder der Länge, oder der Richtung und Länge, oder der Richtung und Lage u. s. w. ausgesagt werden können, und bei andern zu vergleichenden Dingen würden wieder andere Beziehungen der Gleichheit hervortreten. Aber schon dass diese Beziehungen an-
*) S. Einl. Nr. 13.
**) Ebendas. Nr. 5.
1
Uebersicht der allgemeinen Formenlehre.
§ 1. Unter der allgemeinen Formenlehre verstehen wir die- jenige Reihe von Wahrheiten, welche sich auf alle Zweige der Mathematik auf gleiche Weise beziehen, und daher nur die allge- meinen Begriffe der Gleichheit und Verschiedenheit, der Ver- knüpfung und Sonderung voraussetzen. Es müsste daher die all- gemeine Formenlehre allen speciellen Zweigen der Mathematik vorangehen *); da aber jener allgemeine Zweig noch nicht als solcher vorhanden ist, und wir ihn doch nicht, ohne uns in un- nütze Weitläuftigkeiten zu verwickeln, übergehen dürfen, so bleibt uns nichts übrig, als denselben hier so weit zu entwickeln, wie wir seiner für unsere Wissenschaft bedürfen. Es ist hier zuerst der Begriff der Gleichheit und Verschiedenheit festzustellen. Da das Gleiche nothwendig, auch schon damit nur die Zweiheit her- austritt, als Verschiedenes, und das Verschiedene auch als Gleiches erscheinen muss, nur in verschiedener Hinsicht **), so scheint es bei oberflächlicher Betrachtung nöthig, verschiedene Beziehungen der Gleichheit und Verschiedenheit aufzustellen; so würde z. B. bei Vergleichung zweier begränzter Linien die Gleichheit der Richtung oder der Länge, oder der Richtung und Länge, oder der Richtung und Lage u. s. w. ausgesagt werden können, und bei andern zu vergleichenden Dingen würden wieder andere Beziehungen der Gleichheit hervortreten. Aber schon dass diese Beziehungen an-
*) S. Einl. Nr. 13.
**) Ebendas. Nr. 5.
1
<TEI><text><body><pbfacs="#f0037"n="[1]"/><divn="1"><head><hirendition="#b">Uebersicht der allgemeinen Formenlehre.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>§ 1. Unter der allgemeinen Formenlehre verstehen wir die-<lb/>
jenige Reihe von Wahrheiten, welche sich auf alle Zweige der<lb/>
Mathematik auf gleiche Weise beziehen, und daher nur die allge-<lb/>
meinen Begriffe der Gleichheit und Verschiedenheit, der Ver-<lb/>
knüpfung und Sonderung voraussetzen. Es müsste daher die all-<lb/>
gemeine Formenlehre allen speciellen Zweigen der Mathematik<lb/>
vorangehen <noteplace="foot"n="*)">S. Einl. Nr. 13.</note>; da aber jener allgemeine Zweig noch nicht als<lb/>
solcher vorhanden ist, und wir ihn doch nicht, ohne uns in un-<lb/>
nütze Weitläuftigkeiten zu verwickeln, übergehen dürfen, so bleibt<lb/>
uns nichts übrig, als denselben hier so weit zu entwickeln, wie<lb/>
wir seiner für unsere Wissenschaft bedürfen. Es ist hier zuerst<lb/>
der Begriff der Gleichheit und Verschiedenheit festzustellen. Da<lb/>
das Gleiche nothwendig, auch schon damit nur die Zweiheit her-<lb/>
austritt, als Verschiedenes, und das Verschiedene auch als Gleiches<lb/>
erscheinen muss, nur in verschiedener Hinsicht <noteplace="foot"n="**)">Ebendas. Nr. 5.</note>, so scheint es<lb/>
bei oberflächlicher Betrachtung nöthig, verschiedene Beziehungen<lb/>
der Gleichheit und Verschiedenheit aufzustellen; so würde z. B. bei<lb/>
Vergleichung zweier begränzter Linien die Gleichheit der Richtung<lb/>
oder der Länge, oder der Richtung und Länge, oder der Richtung<lb/>
und Lage u. s. w. ausgesagt werden können, und bei andern zu<lb/>
vergleichenden Dingen würden wieder andere Beziehungen der<lb/>
Gleichheit hervortreten. Aber schon dass diese Beziehungen an-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">1</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[[1]/0037]
Uebersicht der allgemeinen Formenlehre.
§ 1. Unter der allgemeinen Formenlehre verstehen wir die-
jenige Reihe von Wahrheiten, welche sich auf alle Zweige der
Mathematik auf gleiche Weise beziehen, und daher nur die allge-
meinen Begriffe der Gleichheit und Verschiedenheit, der Ver-
knüpfung und Sonderung voraussetzen. Es müsste daher die all-
gemeine Formenlehre allen speciellen Zweigen der Mathematik
vorangehen *); da aber jener allgemeine Zweig noch nicht als
solcher vorhanden ist, und wir ihn doch nicht, ohne uns in un-
nütze Weitläuftigkeiten zu verwickeln, übergehen dürfen, so bleibt
uns nichts übrig, als denselben hier so weit zu entwickeln, wie
wir seiner für unsere Wissenschaft bedürfen. Es ist hier zuerst
der Begriff der Gleichheit und Verschiedenheit festzustellen. Da
das Gleiche nothwendig, auch schon damit nur die Zweiheit her-
austritt, als Verschiedenes, und das Verschiedene auch als Gleiches
erscheinen muss, nur in verschiedener Hinsicht **), so scheint es
bei oberflächlicher Betrachtung nöthig, verschiedene Beziehungen
der Gleichheit und Verschiedenheit aufzustellen; so würde z. B. bei
Vergleichung zweier begränzter Linien die Gleichheit der Richtung
oder der Länge, oder der Richtung und Länge, oder der Richtung
und Lage u. s. w. ausgesagt werden können, und bei andern zu
vergleichenden Dingen würden wieder andere Beziehungen der
Gleichheit hervortreten. Aber schon dass diese Beziehungen an-
*) S. Einl. Nr. 13.
**) Ebendas. Nr. 5.
1
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Graßmann, Hermann: Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Bd. 1. Leipzig, 1844, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grassmann_ausdehnungslehre_1844/37>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.