Wie nun die Griechen in ihrem Sylbenmaaße die La- teiner zu Nachfolgern bekommen: So haben auch die alten Deutschen gantz Europa reimen gelehret. Jtalien, Spanien und Gallien nahmen die Art derjenigen Völcker an, die sich durch die Gewalt der Waffen ihrer bemächtigten. Ja auch die Pohlen, eine Abkunft der alten Sarmater, beliebten die reimende Poesie. Die Dänen, Schweden, Holl- und Engel- länder sind selbst von deutschem Geschlechte, und haben also diese Kunst von ihren eigenen Vorfahren gefasset. Nichts ist dabey mehr zu bewundern, als daß die Jtaliener, Spa- nier und Franzosen, die doch Abkömmlinge der Lateiner sind, nicht das regelmäßige Sylbenmaaß ihrer Vorfahren beybe- halten, und selbiges mit der Deutschen Reimart verbunden haben. So hoch Dantes und Petrarcha in Welschland, Ronsard und Malherbe in Franckreich, wegen der durch sie gesäuberten Poesie ihres Vaterlandes, geschätzet werden: so seltsam muß es einem Verständigen vorkommen, daß diese grosse Geister ihren Landesleuten nicht gewiesen, wie man auch im Welschen und Französischen die lateinische Art zu Dichten nachahmen, und verschiedene Arten der Abwechse- lung langer und kurtzer Sylben einführen könnte. Sie blieben nehmlich bey der blossen Abzehlung der Sylben, und dem Reime: wozu die Franzosen in den fünf und sechs füßigen Verßen noch einen Abschnitt hinzugethan. Daher ist es denn vergeblich, wenn einige von unsern Landesleuten in der Poesie dieser Völcker ein Sylbenmaaß suchen, oder ihre Poeten be- schuldigen, daß sie dawieder verstossen, wie der ungenannte Verfasser der Reflexions sur la Versification francoise gethan. Sie haben sichs noch niemahls in den Sinn kommen lassen, daß ihre Sprache lange und kurtze Sylben habe; so leicht man ihnen solches durch die Aussprache selbst zeigen kan. Und wenn sie gleich viel von ihrer so genannten Cadance schwatzen: so ist es bey ihnen doch ein blosses je ne scai quoi. Sie wissen nehmlich nicht zu sagen, woher dieselbe entstehe, können auch keine Regeln davon geben; und wollen sich doch nicht sagen lassen, daß solches bloß von einer regelmäßigen Abwechselung langer und kurtzer Sylben herrühre. Diese gelinget ihnen
zu-
Das I. Cap. Vom Urſprunge
Wie nun die Griechen in ihrem Sylbenmaaße die La- teiner zu Nachfolgern bekommen: So haben auch die alten Deutſchen gantz Europa reimen gelehret. Jtalien, Spanien und Gallien nahmen die Art derjenigen Voͤlcker an, die ſich durch die Gewalt der Waffen ihrer bemaͤchtigten. Ja auch die Pohlen, eine Abkunft der alten Sarmater, beliebten die reimende Poeſie. Die Daͤnen, Schweden, Holl- und Engel- laͤnder ſind ſelbſt von deutſchem Geſchlechte, und haben alſo dieſe Kunſt von ihren eigenen Vorfahren gefaſſet. Nichts iſt dabey mehr zu bewundern, als daß die Jtaliener, Spa- nier und Franzoſen, die doch Abkoͤmmlinge der Lateiner ſind, nicht das regelmaͤßige Sylbenmaaß ihrer Vorfahren beybe- halten, und ſelbiges mit der Deutſchen Reimart verbunden haben. So hoch Dantes und Petrarcha in Welſchland, Ronſard und Malherbe in Franckreich, wegen der durch ſie geſaͤuberten Poeſie ihres Vaterlandes, geſchaͤtzet werden: ſo ſeltſam muß es einem Verſtaͤndigen vorkommen, daß dieſe groſſe Geiſter ihren Landesleuten nicht gewieſen, wie man auch im Welſchen und Franzoͤſiſchen die lateiniſche Art zu Dichten nachahmen, und verſchiedene Arten der Abwechſe- lung langer und kurtzer Sylben einfuͤhren koͤnnte. Sie blieben nehmlich bey der bloſſen Abzehlung der Sylben, und dem Reime: wozu die Franzoſen in den fuͤnf und ſechs fuͤßigen Verßen noch einen Abſchnitt hinzugethan. Daher iſt es denn vergeblich, wenn einige von unſern Landesleuten in der Poeſie dieſer Voͤlcker ein Sylbenmaaß ſuchen, oder ihre Poeten be- ſchuldigen, daß ſie dawieder verſtoſſen, wie der ungenannte Verfaſſer der Reflexions ſur la Verſification françoiſe gethan. Sie haben ſichs noch niemahls in den Sinn kommen laſſen, daß ihre Sprache lange und kurtze Sylben habe; ſo leicht man ihnen ſolches durch die Ausſprache ſelbſt zeigen kan. Und wenn ſie gleich viel von ihrer ſo genannten Cadance ſchwatzen: ſo iſt es bey ihnen doch ein bloſſes je ne ſçai quoi. Sie wiſſen nehmlich nicht zu ſagen, woher dieſelbe entſtehe, koͤnnen auch keine Regeln davon geben; und wollen ſich doch nicht ſagen laſſen, daß ſolches bloß von einer regelmaͤßigen Abwechſelung langer und kurtzer Sylben herruͤhre. Dieſe gelinget ihnen
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Das I. Cap. Vom Urſprunge
Wie nun die Griechen in ihrem Sylbenmaaße die La-
teiner zu Nachfolgern bekommen: So haben auch die alten
Deutſchen gantz Europa reimen gelehret. Jtalien, Spanien
und Gallien nahmen die Art derjenigen Voͤlcker an, die ſich
durch die Gewalt der Waffen ihrer bemaͤchtigten. Ja auch
die Pohlen, eine Abkunft der alten Sarmater, beliebten die
reimende Poeſie. Die Daͤnen, Schweden, Holl- und Engel-
laͤnder ſind ſelbſt von deutſchem Geſchlechte, und haben alſo
dieſe Kunſt von ihren eigenen Vorfahren gefaſſet. Nichts
iſt dabey mehr zu bewundern, als daß die Jtaliener, Spa-
nier und Franzoſen, die doch Abkoͤmmlinge der Lateiner ſind,
nicht das regelmaͤßige Sylbenmaaß ihrer Vorfahren beybe-
halten, und ſelbiges mit der Deutſchen Reimart verbunden
haben. So hoch Dantes und Petrarcha in Welſchland,
Ronſard und Malherbe in Franckreich, wegen der durch ſie
geſaͤuberten Poeſie ihres Vaterlandes, geſchaͤtzet werden:
ſo ſeltſam muß es einem Verſtaͤndigen vorkommen, daß dieſe
groſſe Geiſter ihren Landesleuten nicht gewieſen, wie man
auch im Welſchen und Franzoͤſiſchen die lateiniſche Art zu
Dichten nachahmen, und verſchiedene Arten der Abwechſe-
lung langer und kurtzer Sylben einfuͤhren koͤnnte. Sie blieben
nehmlich bey der bloſſen Abzehlung der Sylben, und dem
Reime: wozu die Franzoſen in den fuͤnf und ſechs fuͤßigen
Verßen noch einen Abſchnitt hinzugethan. Daher iſt es denn
vergeblich, wenn einige von unſern Landesleuten in der Poeſie
dieſer Voͤlcker ein Sylbenmaaß ſuchen, oder ihre Poeten be-
ſchuldigen, daß ſie dawieder verſtoſſen, wie der ungenannte
Verfaſſer der Reflexions ſur la Verſification françoiſe gethan.
Sie haben ſichs noch niemahls in den Sinn kommen laſſen,
daß ihre Sprache lange und kurtze Sylben habe; ſo leicht
man ihnen ſolches durch die Ausſprache ſelbſt zeigen kan. Und
wenn ſie gleich viel von ihrer ſo genannten Cadance ſchwatzen:
ſo iſt es bey ihnen doch ein bloſſes je ne ſçai quoi. Sie wiſſen
nehmlich nicht zu ſagen, woher dieſelbe entſtehe, koͤnnen auch
keine Regeln davon geben; und wollen ſich doch nicht ſagen
laſſen, daß ſolches bloß von einer regelmaͤßigen Abwechſelung
langer und kurtzer Sylben herruͤhre. Dieſe gelinget ihnen
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/94>, abgerufen am 24.11.2024.
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