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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.

Wer nun ein Gastmahl giebt und wohl bewirthen kan,
600Vor Schuldner Bürge wird und manchen armen Mann,

Der in Processen steckt, vermögend ist zu retten;
Von dem erkühn ich mich ohn alle Scheu zu wetten:
Vor Liebe zu sich selbst erkennt er selber nicht,
Des wahren Freundes Wort und was ein Heuchler spricht.

605
Wenn du einmahl tractirst; so zeige nur dein Blatt
Dem Gaste nicht alsdann, wenn er getruncken hat,
Voll Wein, und Freuden ist. Sonst wird er sich nicht scheuen:
Vortrefflich, ungemein! auf jedes Wort zu schreyen.
Er wird entzücket stehn; Ein heisser Thränen-Guß
610Wird aus den Augen thaun, und sein gestampfter Fuß

Wird tantzend lustig seyn. Denn so wie bey den Leichen
Die nechsten Erben fast den Klage-Weibern weichen,
Die man vor Geld gedingt zu heulen und zu schreyn:
So wird ein Spötter auch weit mehr gerühret seyn,
615Als Freunde guter Art, die deiner Dichtkunst Proben

Vernünftig eingesehn, und mit Verstande loben.
605
614
621
622
Man
605 Wenn du einmahl. Horatz giebt dem jungen Piso die gute Lehre seine
Gedichte keinem vorzulesen, dem er entweder was vorsetzet, oder noch was vorsetzen
will. Es müssen gantz unpartheyische Leute seyn, von denen wir ein Urtheil über
unsre Gedichte fordern wollen. Wer aber von dem andern entweder schon was
Gutes genossen, oder noch zu gewarten hat: der ist schon einiger massen bestochen.
Er kan nicht mehr urtheilen wie er sonst würde geurtheilet haben, wenn er gantz
frey gewesen wäre. Der müste sehr gleichgültig seyn, der auch an seinem Feinde
was loben, und seinen Wohlthäter ins Gesichte tadeln könnte.
614 Ein Spötter. Man kan die Heuchler fast an der Verwegenheit ihrer
Lobsprüche kennen. Wenn der vernünftige Richter sagt, ein Gedichte sey hübsch
und wohlgerathen: So nennt es der Schmeichler unvergleichlich, unverbesserlich.
Das mäßige Lob eines scharfen Kenners, ja nur der blosse Beyfall eines Critici ver-
gnüget mich weit mehr, als der entzückte Ausruff eines Unverständigen, und die
verstellte Bewunderung eines eigennützigen und falschen Freundes.
621 Fuchspeltz. Animi sub vulpe latentes. Horatz zielt hier ohne Zweifel
auf die Fabei vom Fuchse und Raben, der den Käse gestohlen hatte. Der Fuchs
lobte des Raben bunte Federn, die er doch nicht hatte, und hernach seinen schönen
Gesang. Der dumme Vogel glaubts, läst seine Stimme einmahl hören: und so
schnappt der Fuchs den Käse weg. Die Deutung ist leicht gemacht.
622 Quinti. Dieß ist Quintilius Varus der dritte Hof-Poet des Käysers
Augusti: ein guter Freund Virgilii und Horatii. Er war schon gestorben als die-
ser

Horatius von der Dicht-Kunſt.

Wer nun ein Gaſtmahl giebt und wohl bewirthen kan,
600Vor Schuldner Buͤrge wird und manchen armen Mann,

Der in Proceſſen ſteckt, vermoͤgend iſt zu retten;
Von dem erkuͤhn ich mich ohn alle Scheu zu wetten:
Vor Liebe zu ſich ſelbſt erkennt er ſelber nicht,
Des wahren Freundes Wort und was ein Heuchler ſpricht.

605
Wenn du einmahl tractirſt; ſo zeige nur dein Blatt
Dem Gaſte nicht alsdann, wenn er getruncken hat,
Voll Wein, und Freuden iſt. Sonſt wird er ſich nicht ſcheuen:
Vortrefflich, ungemein! auf jedes Wort zu ſchreyen.
Er wird entzuͤcket ſtehn; Ein heiſſer Thraͤnen-Guß
610Wird aus den Augen thaun, und ſein geſtampfter Fuß

Wird tantzend luſtig ſeyn. Denn ſo wie bey den Leichen
Die nechſten Erben faſt den Klage-Weibern weichen,
Die man vor Geld gedingt zu heulen und zu ſchreyn:
So wird ein Spoͤtter auch weit mehr geruͤhret ſeyn,
615Als Freunde guter Art, die deiner Dichtkunſt Proben

Vernuͤnftig eingeſehn, und mit Verſtande loben.
605
614
621
622
Man
605 Wenn du einmahl. Horatz giebt dem jungen Piſo die gute Lehre ſeine
Gedichte keinem vorzuleſen, dem er entweder was vorſetzet, oder noch was vorſetzen
will. Es muͤſſen gantz unpartheyiſche Leute ſeyn, von denen wir ein Urtheil uͤber
unſre Gedichte fordern wollen. Wer aber von dem andern entweder ſchon was
Gutes genoſſen, oder noch zu gewarten hat: der iſt ſchon einiger maſſen beſtochen.
Er kan nicht mehr urtheilen wie er ſonſt wuͤrde geurtheilet haben, wenn er gantz
frey geweſen waͤre. Der muͤſte ſehr gleichguͤltig ſeyn, der auch an ſeinem Feinde
was loben, und ſeinen Wohlthaͤter ins Geſichte tadeln koͤnnte.
614 Ein Spötter. Man kan die Heuchler faſt an der Verwegenheit ihrer
Lobſpruͤche kennen. Wenn der vernuͤnftige Richter ſagt, ein Gedichte ſey huͤbſch
und wohlgerathen: So nennt es der Schmeichler unvergleichlich, unverbeſſerlich.
Das maͤßige Lob eines ſcharfen Kenners, ja nur der bloſſe Beyfall eines Critici ver-
gnuͤget mich weit mehr, als der entzuͤckte Ausruff eines Unverſtaͤndigen, und die
verſtellte Bewunderung eines eigennuͤtzigen und falſchen Freundes.
621 Fuchspeltz. Animi ſub vulpe latentes. Horatz zielt hier ohne Zweifel
auf die Fabei vom Fuchſe und Raben, der den Kaͤſe geſtohlen hatte. Der Fuchs
lobte des Raben bunte Federn, die er doch nicht hatte, und hernach ſeinen ſchoͤnen
Geſang. Der dumme Vogel glaubts, laͤſt ſeine Stimme einmahl hoͤren: und ſo
ſchnappt der Fuchs den Kaͤſe weg. Die Deutung iſt leicht gemacht.
622 Quinti. Dieß iſt Quintilius Varus der dritte Hof-Poet des Kaͤyſers
Auguſti: ein guter Freund Virgilii und Horatii. Er war ſchon geſtorben als die-
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[50/0078] Horatius von der Dicht-Kunſt. Wer nun ein Gaſtmahl giebt und wohl bewirthen kan, Vor Schuldner Buͤrge wird und manchen armen Mann, Der in Proceſſen ſteckt, vermoͤgend iſt zu retten; Von dem erkuͤhn ich mich ohn alle Scheu zu wetten: Vor Liebe zu ſich ſelbſt erkennt er ſelber nicht, Des wahren Freundes Wort und was ein Heuchler ſpricht. Wenn du einmahl tractirſt; ſo zeige nur dein Blatt Dem Gaſte nicht alsdann, wenn er getruncken hat, Voll Wein, und Freuden iſt. Sonſt wird er ſich nicht ſcheuen: Vortrefflich, ungemein! auf jedes Wort zu ſchreyen. Er wird entzuͤcket ſtehn; Ein heiſſer Thraͤnen-Guß Wird aus den Augen thaun, und ſein geſtampfter Fuß Wird tantzend luſtig ſeyn. Denn ſo wie bey den Leichen Die nechſten Erben faſt den Klage-Weibern weichen, Die man vor Geld gedingt zu heulen und zu ſchreyn: So wird ein Spoͤtter auch weit mehr geruͤhret ſeyn, Als Freunde guter Art, die deiner Dichtkunſt Proben Vernuͤnftig eingeſehn, und mit Verſtande loben. Man 605 614 621 622 605 Wenn du einmahl. Horatz giebt dem jungen Piſo die gute Lehre ſeine Gedichte keinem vorzuleſen, dem er entweder was vorſetzet, oder noch was vorſetzen will. Es muͤſſen gantz unpartheyiſche Leute ſeyn, von denen wir ein Urtheil uͤber unſre Gedichte fordern wollen. Wer aber von dem andern entweder ſchon was Gutes genoſſen, oder noch zu gewarten hat: der iſt ſchon einiger maſſen beſtochen. Er kan nicht mehr urtheilen wie er ſonſt wuͤrde geurtheilet haben, wenn er gantz frey geweſen waͤre. Der muͤſte ſehr gleichguͤltig ſeyn, der auch an ſeinem Feinde was loben, und ſeinen Wohlthaͤter ins Geſichte tadeln koͤnnte. 614 Ein Spötter. Man kan die Heuchler faſt an der Verwegenheit ihrer Lobſpruͤche kennen. Wenn der vernuͤnftige Richter ſagt, ein Gedichte ſey huͤbſch und wohlgerathen: So nennt es der Schmeichler unvergleichlich, unverbeſſerlich. Das maͤßige Lob eines ſcharfen Kenners, ja nur der bloſſe Beyfall eines Critici ver- gnuͤget mich weit mehr, als der entzuͤckte Ausruff eines Unverſtaͤndigen, und die verſtellte Bewunderung eines eigennuͤtzigen und falſchen Freundes. 621 Fuchspeltz. Animi ſub vulpe latentes. Horatz zielt hier ohne Zweifel auf die Fabei vom Fuchſe und Raben, der den Kaͤſe geſtohlen hatte. Der Fuchs lobte des Raben bunte Federn, die er doch nicht hatte, und hernach ſeinen ſchoͤnen Geſang. Der dumme Vogel glaubts, laͤſt ſeine Stimme einmahl hoͤren: und ſo ſchnappt der Fuchs den Kaͤſe weg. Die Deutung iſt leicht gemacht. 622 Quinti. Dieß iſt Quintilius Varus der dritte Hof-Poet des Kaͤyſers Auguſti: ein guter Freund Virgilii und Horatii. Er war ſchon geſtorben als die- ſer

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/78>, abgerufen am 27.11.2024.