Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Wer wohl gelernet hat was Freund und Vaterland 438440Vor Pflichten von ihm heischt, die Schuldigkeit erkannt So Kindern zugehört, die Art wie Brüder leben, Was Rath und Richter-Amt vor Lebens-Regeln geben, Wie Feldherr und Soldat im Kriege sich beträgt: Der hat den rechten Grund zur Poesie gelegt; 445Der wird nichts thörichtes, nichts ungereimtes dichten, Und jeden Character nach den Personen richten. Wer klüglich bilden will, der schaue die Natur, Und Art der Menschen an, und folge dieser Spur; So wird er fähig seyn, sie lebhafft abzuschildern. 450Offt rühret ein Gedicht mit wohlgetroffnen Bildern, Darinnen hier und dar ein schöner Lehr-Spruch liegt, So schlecht der Ausputz auch ein zartes Ohr vergnügt, Viel kräfftiger das Volck; als Verse, die wie Schaalen, Darinn kein Kern mehr ist, mit leeren Thönen prahlen. 439 447 450 Den 438 Der Ausdruck. Es ist thöricht auf Worte zu sinnen, wenn man die Sachen nicht versteht. Wer die Materien, davon er schreiben will, wohl inne hat, und voll guter Gedancken ist, der wird leicht Worte finden, sie an den Tag zu legen. Was taugen also die Poetischen Lexica von schönen Redensarten, Beywörtern, Be- schreibungen und andern solchen Raritäten? 439 Gelernet hat etc. So viel fordert Horatz von einem Poeten. Das ist eine schwere Leetion vor diejenigen, so die Poesie vor ein Werck der ersten Jugend hal- ten; da doch sehr wenige in ihren männlichen Jahren alle die Wissenschafft besitzen, die zu einem wahren Dichter unentbehrlich ist. 447 Bilden will. Jm Lateinischen heißt es nachahmen. Ein Poet ist ein Nachahmer der Natur, wenn ich so sagen darf, und zwar ein gelehrter Nachahmer, wie Horatz schreibt; das ist ein geschickter, geübter Mahler. 450 Ein Gedicht. Der Poet versteht ein Schauspiel, denn er nennt es Fa- bula. Hierinn müssen die guten Charactere das Beste thun: denn wenn nur die Gemüthsart jeder Person wohl ausgedrückt wird; so übersieht man viel andre Feh- ler in den Verßen und der gantzen Einrichtung der Fabel. C 4
Wer wohl gelernet hat was Freund und Vaterland 438440Vor Pflichten von ihm heiſcht, die Schuldigkeit erkannt So Kindern zugehoͤrt, die Art wie Bruͤder leben, Was Rath und Richter-Amt vor Lebens-Regeln geben, Wie Feldherr und Soldat im Kriege ſich betraͤgt: Der hat den rechten Grund zur Poeſie gelegt; 445Der wird nichts thoͤrichtes, nichts ungereimtes dichten, Und jeden Character nach den Perſonen richten. Wer kluͤglich bilden will, der ſchaue die Natur, Und Art der Menſchen an, und folge dieſer Spur; So wird er faͤhig ſeyn, ſie lebhafft abzuſchildern. 450Offt ruͤhret ein Gedicht mit wohlgetroffnen Bildern, Darinnen hier und dar ein ſchoͤner Lehr-Spruch liegt, So ſchlecht der Ausputz auch ein zartes Ohr vergnuͤgt, Viel kraͤfftiger das Volck; als Verſe, die wie Schaalen, Darinn kein Kern mehr iſt, mit leeren Thoͤnen prahlen. 439 447 450 Den 438 Der Ausdruck. Es iſt thoͤricht auf Worte zu ſinnen, wenn man die Sachen nicht verſteht. Wer die Materien, davon er ſchreiben will, wohl inne hat, und voll guter Gedancken iſt, der wird leicht Worte finden, ſie an den Tag zu legen. Was taugen alſo die Poetiſchen Lexica von ſchoͤnen Redensarten, Beywoͤrtern, Be- ſchreibungen und andern ſolchen Raritaͤten? 439 Gelernet hat ꝛc. So viel fordert Horatz von einem Poeten. Das iſt eine ſchwere Leetion vor diejenigen, ſo die Poeſie vor ein Werck der erſten Jugend hal- ten; da doch ſehr wenige in ihren maͤnnlichen Jahren alle die Wiſſenſchafft beſitzen, die zu einem wahren Dichter unentbehrlich iſt. 447 Bilden will. Jm Lateiniſchen heißt es nachahmen. Ein Poet iſt ein Nachahmer der Natur, wenn ich ſo ſagen darf, und zwar ein gelehrter Nachahmer, wie Horatz ſchreibt; das iſt ein geſchickter, geuͤbter Mahler. 450 Ein Gedicht. Der Poet verſteht ein Schauſpiel, denn er nennt es Fa- bula. Hierinn muͤſſen die guten Charactere das Beſte thun: denn wenn nur die Gemuͤthsart jeder Perſon wohl ausgedruͤckt wird; ſo uͤberſieht man viel andre Feh- ler in den Verßen und der gantzen Einrichtung der Fabel. C 4
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Horatius von der Dicht-Kunſt.
So findet ihr den Stoff der ein Gedicht erhoͤht.
Wo nun der Zeug nicht ſehlt, den wir in Verſe binden,
Da wird der Ausdruck ſich ſchon von ſich ſelber finden.
Wer wohl gelernet hat was Freund und Vaterland
Vor Pflichten von ihm heiſcht, die Schuldigkeit erkannt
So Kindern zugehoͤrt, die Art wie Bruͤder leben,
Was Rath und Richter-Amt vor Lebens-Regeln geben,
Wie Feldherr und Soldat im Kriege ſich betraͤgt:
Der hat den rechten Grund zur Poeſie gelegt;
Der wird nichts thoͤrichtes, nichts ungereimtes dichten,
Und jeden Character nach den Perſonen richten.
Wer kluͤglich bilden will, der ſchaue die Natur,
Und Art der Menſchen an, und folge dieſer Spur;
So wird er faͤhig ſeyn, ſie lebhafft abzuſchildern.
Offt ruͤhret ein Gedicht mit wohlgetroffnen Bildern,
Darinnen hier und dar ein ſchoͤner Lehr-Spruch liegt,
So ſchlecht der Ausputz auch ein zartes Ohr vergnuͤgt,
Viel kraͤfftiger das Volck; als Verſe, die wie Schaalen,
Darinn kein Kern mehr iſt, mit leeren Thoͤnen prahlen.
Den
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438 Der Ausdruck. Es iſt thoͤricht auf Worte zu ſinnen, wenn man die Sachen
nicht verſteht. Wer die Materien, davon er ſchreiben will, wohl inne hat, und
voll guter Gedancken iſt, der wird leicht Worte finden, ſie an den Tag zu legen.
Was taugen alſo die Poetiſchen Lexica von ſchoͤnen Redensarten, Beywoͤrtern, Be-
ſchreibungen und andern ſolchen Raritaͤten?
439 Gelernet hat ꝛc. So viel fordert Horatz von einem Poeten. Das iſt eine
ſchwere Leetion vor diejenigen, ſo die Poeſie vor ein Werck der erſten Jugend hal-
ten; da doch ſehr wenige in ihren maͤnnlichen Jahren alle die Wiſſenſchafft beſitzen,
die zu einem wahren Dichter unentbehrlich iſt.
447 Bilden will. Jm Lateiniſchen heißt es nachahmen. Ein Poet iſt ein
Nachahmer der Natur, wenn ich ſo ſagen darf, und zwar ein gelehrter Nachahmer,
wie Horatz ſchreibt; das iſt ein geſchickter, geuͤbter Mahler.
450 Ein Gedicht. Der Poet verſteht ein Schauſpiel, denn er nennt es Fa-
bula. Hierinn muͤſſen die guten Charactere das Beſte thun: denn wenn nur die
Gemuͤthsart jeder Perſon wohl ausgedruͤckt wird; ſo uͤberſieht man viel andre Feh-
ler in den Verßen und der gantzen Einrichtung der Fabel.
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