Darauf erscheint Lulli selbst im Reiche der Todten, und redet den Orpheus dergestalt an. Jch habe längst von dir reden hören, als von einem Meister in unsrer Kunst. Du sollst eine hübsche Leyer gespielet, und gar die Hölle damit bezaubert haben: Allein nach reifer Uberlegung dünckt es mich, du habest deinen Ruhm nur durch gewisse Künste erlanget. Was mich anlanget, so spiele ich eine Violine, und componire so ziemlich. Wir wollen mit einander zur Probe eine Oper spielen, die soll uns schon was ein- bringen. Die Griechen werden ja so neugierig seyn, als die Franzo- sen. An Poeten wird es uns nicht fehlen die Verse zu machen: Apollo soll seinen Parnaß zum Theater hergeben; Pegasus muß zur Maschine dienen, etwas durch die Lufft fliegen zu lassen; die neun Musen sollen Sängerinnen abgeben; Apollo mag auf der Leyer spielend, mit seinem gläntzenden Wagen vom Himmel herunter kom- men, wie ich ihn sonst schon bey Hofe vorgestellet habe. Man hat mir von einem gewissen Pfeifer der Königin Clytemnestra was er- zehlt, der auch dabey seyn muß. Jch möchte wissen, ob er so gut spielt als Des Coteaux. Er soll ja mit seiner Music die Keuschheit des Frauenzimmers befördert haben. Wa[s] mich anlangt; so ge- stehe ich frey heraus, daß meine Sachen gerade das Gegentheil gewircket, und daß ich als ein nützliches Werckzeug an der Verder- bung der Sitten meiner Zeiten gearbeitet. Nichts desto weniger verdienen sie eben den Ruhm, weil sie sich nach der Absicht ihres Urhebers gerichtet haben. Uber eine so seltsame Rede erschrack Orpheus, sonderlich daß er so verwegen von dem Apollo und den Musen gesprochen, und so gewinnsüchtig gewesen; da er doch der bloßen Ehre halber gearbeitet hätte: Wor auf Lulli sie vor Narren schimpft, und mit allerley närrischen Posituren davon läuft.
Jch habe nur einen gelinden Auszug von dem weit schärfern Urtheile dieses Criticigemacht: wie ein jeder, der es selbst nachlesen will, leicht sehen wird. Jch enthalte mich nunmehro auch, die Zeugnisse unsrer Landes-Leute, und darunter des berühmten Neu- kirchs anzuführen, der in seinen Satiren, so in den Hanckischen Gedichten stehen, offt auf eben den Schlag davon geurtheilet hat. Jch gedencke auch des Spectateurs nicht, der sein Mißfallen dar- über offt zu verstehen gegeben. Jch erwehne auch des ungenann- ten Verfassers von dem englischen Buche The Gentlemens re-
creation
Des II Theils XII Capitel
Darauf erſcheint Lulli ſelbſt im Reiche der Todten, und redet den Orpheus dergeſtalt an. Jch habe laͤngſt von dir reden hoͤren, als von einem Meiſter in unſrer Kunſt. Du ſollſt eine huͤbſche Leyer geſpielet, und gar die Hoͤlle damit bezaubert haben: Allein nach reifer Uberlegung duͤnckt es mich, du habeſt deinen Ruhm nur durch gewiſſe Kuͤnſte erlanget. Was mich anlanget, ſo ſpiele ich eine Violine, und componire ſo ziemlich. Wir wollen mit einander zur Probe eine Oper ſpielen, die ſoll uns ſchon was ein- bringen. Die Griechen werden ja ſo neugierig ſeyn, als die Franzo- ſen. An Poeten wird es uns nicht fehlen die Verſe zu machen: Apollo ſoll ſeinen Parnaß zum Theater hergeben; Pegaſus muß zur Maſchine dienen, etwas durch die Lufft fliegen zu laſſen; die neun Muſen ſollen Saͤngerinnen abgeben; Apollo mag auf der Leyer ſpielend, mit ſeinem glaͤntzenden Wagen vom Himmel herunter kom- men, wie ich ihn ſonſt ſchon bey Hofe vorgeſtellet habe. Man hat mir von einem gewiſſen Pfeifer der Koͤnigin Clytemneſtra was er- zehlt, der auch dabey ſeyn muß. Jch moͤchte wiſſen, ob er ſo gut ſpielt als Des Coteaux. Er ſoll ja mit ſeiner Muſic die Keuſchheit des Frauenzimmers befoͤrdert haben. Wa[s] mich anlangt; ſo ge- ſtehe ich frey heraus, daß meine Sachen gerade das Gegentheil gewircket, und daß ich als ein nuͤtzliches Werckzeug an der Verder- bung der Sitten meiner Zeiten gearbeitet. Nichts deſto weniger verdienen ſie eben den Ruhm, weil ſie ſich nach der Abſicht ihres Urhebers gerichtet haben. Uber eine ſo ſeltſame Rede erſchrack Orpheus, ſonderlich daß er ſo verwegen von dem Apollo und den Muſen geſprochen, und ſo gewinnſuͤchtig geweſen; da er doch der bloßen Ehre halber gearbeitet haͤtte: Wor auf Lulli ſie vor Narren ſchimpft, und mit allerley naͤrriſchen Poſituren davon laͤuft.
Jch habe nur einen gelinden Auszug von dem weit ſchaͤrfern Urtheile dieſes Criticigemacht: wie ein jeder, der es ſelbſt nachleſen will, leicht ſehen wird. Jch enthalte mich nunmehro auch, die Zeugniſſe unſrer Landes-Leute, und darunter des beruͤhmten Neu- kirchs anzufuͤhren, der in ſeinen Satiren, ſo in den Hanckiſchen Gedichten ſtehen, offt auf eben den Schlag davon geurtheilet hat. Jch gedencke auch des Spectateurs nicht, der ſein Mißfallen dar- uͤber offt zu verſtehen gegeben. Jch erwehne auch des ungenann- ten Verfaſſers von dem engliſchen Buche The Gentlemens re-
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[612/0640]
Des II Theils XII Capitel
Darauf erſcheint Lulli ſelbſt im Reiche der Todten, und redet
den Orpheus dergeſtalt an. Jch habe laͤngſt von dir reden hoͤren,
als von einem Meiſter in unſrer Kunſt. Du ſollſt eine huͤbſche
Leyer geſpielet, und gar die Hoͤlle damit bezaubert haben: Allein
nach reifer Uberlegung duͤnckt es mich, du habeſt deinen Ruhm
nur durch gewiſſe Kuͤnſte erlanget. Was mich anlanget, ſo ſpiele
ich eine Violine, und componire ſo ziemlich. Wir wollen mit
einander zur Probe eine Oper ſpielen, die ſoll uns ſchon was ein-
bringen. Die Griechen werden ja ſo neugierig ſeyn, als die Franzo-
ſen. An Poeten wird es uns nicht fehlen die Verſe zu machen:
Apollo ſoll ſeinen Parnaß zum Theater hergeben; Pegaſus muß
zur Maſchine dienen, etwas durch die Lufft fliegen zu laſſen; die neun
Muſen ſollen Saͤngerinnen abgeben; Apollo mag auf der Leyer
ſpielend, mit ſeinem glaͤntzenden Wagen vom Himmel herunter kom-
men, wie ich ihn ſonſt ſchon bey Hofe vorgeſtellet habe. Man hat
mir von einem gewiſſen Pfeifer der Koͤnigin Clytemneſtra was er-
zehlt, der auch dabey ſeyn muß. Jch moͤchte wiſſen, ob er ſo gut
ſpielt als Des Coteaux. Er ſoll ja mit ſeiner Muſic die Keuſchheit
des Frauenzimmers befoͤrdert haben. Was mich anlangt; ſo ge-
ſtehe ich frey heraus, daß meine Sachen gerade das Gegentheil
gewircket, und daß ich als ein nuͤtzliches Werckzeug an der Verder-
bung der Sitten meiner Zeiten gearbeitet. Nichts deſto weniger
verdienen ſie eben den Ruhm, weil ſie ſich nach der Abſicht ihres
Urhebers gerichtet haben. Uber eine ſo ſeltſame Rede erſchrack
Orpheus, ſonderlich daß er ſo verwegen von dem Apollo und den
Muſen geſprochen, und ſo gewinnſuͤchtig geweſen; da er doch der
bloßen Ehre halber gearbeitet haͤtte: Wor auf Lulli ſie vor Narren
ſchimpft, und mit allerley naͤrriſchen Poſituren davon laͤuft.
Jch habe nur einen gelinden Auszug von dem weit ſchaͤrfern
Urtheile dieſes Criticigemacht: wie ein jeder, der es ſelbſt nachleſen
will, leicht ſehen wird. Jch enthalte mich nunmehro auch, die
Zeugniſſe unſrer Landes-Leute, und darunter des beruͤhmten Neu-
kirchs anzufuͤhren, der in ſeinen Satiren, ſo in den Hanckiſchen
Gedichten ſtehen, offt auf eben den Schlag davon geurtheilet hat.
Jch gedencke auch des Spectateurs nicht, der ſein Mißfallen dar-
uͤber offt zu verſtehen gegeben. Jch erwehne auch des ungenann-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/640>, abgerufen am 27.11.2024.
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