sie. Ach Schwester, genug; wir müssen uns trennen. Jch will mich entfernen: und denn laß einmahl sehen, was du ohne mich ausrichten wirst. etc. Hieraus ist nun leicht die Ursache zu errathen, warum dieser große Criticus in seiner Art Poetique, wo er aller übrigen Gedichte denckt, an die Oper mit keiner Sylbe gedacht: Wohl aber in seinen Satiren den damahligen grösten Opernschrei- ber Quinaut ausgelacht.
La raison dit Virgile et la rime Quinaut.
Mein IVtes Zeugniß soll mir St. Evremont geben; der einen eigenen Discours über die Opern gemacht, und darinn seine Gedan- cken davon ausführlich entdecket hat. Er setzt gleich anfangs die- se Beschreibung der Oper zum Grunde: Sie sey ein ungereim- ter Mischmasch von Poesie und Music, wo der Dichter und Com- ponist sich sehr viel Mühe machen, und einander die gröste Gewalt anthun, ein sehr elendes Werck zu Stande zu bringen. Nun kan man sich leicht einbilden, was auf diesen Eingang vor eine Ab- handlung folgen werde. Es ist werth, daß ein jeder den gantzen Discours lese, weil er das stärckste ist, was ich wieder die Opern gefunden habe. Er ist aber damit nicht zufrieden, daß er eine Critick darüber geschrieben: sondern hat sich die Mühe genommen, eine gantze Comödie zu machen, der er den Titel, les Opera, gege- ben. Seine Absicht darinn ist, nach dem Muster des Cervantes in dem Quixote, das lächerliche der Opern empfindlich zu machen: Darum dichtet er, daß ein junges Frauenzimmer in einer kleinen Stadt, aus dem beständigen Lesen der Recueils des Opera verrückt im Kopfe geworden, und anstatt der gewöhnlichen Sprache, den Leuten lauter Opern-Arien vorgesungen. Der Knoten in der Fabel ist dieser, daß sie einen alten Officier zum Freyer bekommt, dem sie aber in lauter galanten Liederchen den Korb giebt, und ihren El- tern selbst den Kopf mit ihrem Singen wüste macht: Jndessen aber mit einem andern jungen Stutzer, der sich ihrer Thorheit bequeme- te, und ihr auch lauter musicalische Liebeserklärungen that, gantze Oper-Scenen von Cadmus und Hermionen spielete. Jch bin versichert, daß der gröste Opern-Freund sich bey einer solchen Co- mödie des Lachens nicht sollte enthalten können.
Endlich und zum Vten will ich mich auf den sinnreichen Des Callieres beruffen; der wie bekannt, Verfasser der Histoire po-
etique
Des II Theils XII Capitel
ſie. Ach Schweſter, genug; wir muͤſſen uns trennen. Jch will mich entfernen: und denn laß einmahl ſehen, was du ohne mich ausrichten wirſt. ꝛc. Hieraus iſt nun leicht die Urſache zu errathen, warum dieſer große Criticus in ſeiner Art Poetique, wo er aller uͤbrigen Gedichte denckt, an die Oper mit keiner Sylbe gedacht: Wohl aber in ſeinen Satiren den damahligen groͤſten Opernſchrei- ber Quinaut ausgelacht.
La raiſon dit Virgile et la rime Quinaut.
Mein IVtes Zeugniß ſoll mir St. Evremont geben; der einen eigenen Diſcours uͤber die Opern gemacht, und darinn ſeine Gedan- cken davon ausfuͤhrlich entdecket hat. Er ſetzt gleich anfangs die- ſe Beſchreibung der Oper zum Grunde: Sie ſey ein ungereim- ter Miſchmaſch von Poeſie und Muſic, wo der Dichter und Com- poniſt ſich ſehr viel Muͤhe machen, und einander die groͤſte Gewalt anthun, ein ſehr elendes Werck zu Stande zu bringen. Nun kan man ſich leicht einbilden, was auf dieſen Eingang vor eine Ab- handlung folgen werde. Es iſt werth, daß ein jeder den gantzen Diſcours leſe, weil er das ſtaͤrckſte iſt, was ich wieder die Opern gefunden habe. Er iſt aber damit nicht zufrieden, daß er eine Critick daruͤber geſchrieben: ſondern hat ſich die Muͤhe genommen, eine gantze Comoͤdie zu machen, der er den Titel, les Opera, gege- ben. Seine Abſicht darinn iſt, nach dem Muſter des Cervantes in dem Quixote, das laͤcherliche der Opern empfindlich zu machen: Darum dichtet er, daß ein junges Frauenzimmer in einer kleinen Stadt, aus dem beſtaͤndigen Leſen der Recueils des Opera verruͤckt im Kopfe geworden, und anſtatt der gewoͤhnlichen Sprache, den Leuten lauter Opern-Arien vorgeſungen. Der Knoten in der Fabel iſt dieſer, daß ſie einen alten Officier zum Freyer bekommt, dem ſie aber in lauter galanten Liederchen den Korb giebt, und ihren El- tern ſelbſt den Kopf mit ihrem Singen wuͤſte macht: Jndeſſen aber mit einem andern jungen Stutzer, der ſich ihrer Thorheit bequeme- te, und ihr auch lauter muſicaliſche Liebeserklaͤrungen that, gantze Oper-Scenen von Cadmus und Hermionen ſpielete. Jch bin verſichert, daß der groͤſte Opern-Freund ſich bey einer ſolchen Co- moͤdie des Lachens nicht ſollte enthalten koͤnnen.
Endlich und zum Vten will ich mich auf den ſinnreichen Des Callieres beruffen; der wie bekannt, Verfaſſer der Hiſtoire po-
etique
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0638"n="610"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Des <hirendition="#aq">II</hi> Theils <hirendition="#aq">XII</hi> Capitel</hi></fw><lb/><hirendition="#fr">ſie.</hi> Ach Schweſter, genug; wir muͤſſen uns trennen. Jch will<lb/>
mich entfernen: und denn laß einmahl ſehen, was du ohne mich<lb/>
ausrichten wirſt. ꝛc. Hieraus iſt nun leicht die Urſache zu errathen,<lb/>
warum dieſer große Criticus in ſeiner <hirendition="#aq">Art Poetique,</hi> wo er aller<lb/>
uͤbrigen Gedichte denckt, an die Oper mit keiner Sylbe gedacht:<lb/>
Wohl aber in ſeinen Satiren den damahligen groͤſten Opernſchrei-<lb/>
ber <hirendition="#aq">Quinaut</hi> ausgelacht.</p><lb/><p><hirendition="#et"><hirendition="#aq">La raiſon dit Virgile et la rime Quinaut.</hi></hi></p><lb/><p>Mein <hirendition="#aq">IV</hi>tes Zeugniß ſoll mir St. Evremont geben; der einen<lb/>
eigenen Diſcours uͤber die Opern gemacht, und darinn ſeine Gedan-<lb/>
cken davon ausfuͤhrlich entdecket hat. Er ſetzt gleich anfangs die-<lb/>ſe Beſchreibung der Oper zum Grunde: Sie ſey ein ungereim-<lb/>
ter Miſchmaſch von Poeſie und Muſic, wo der Dichter und Com-<lb/>
poniſt ſich ſehr viel Muͤhe machen, und einander die groͤſte Gewalt<lb/>
anthun, ein ſehr elendes Werck zu Stande zu bringen. Nun<lb/>
kan man ſich leicht einbilden, was auf dieſen Eingang vor eine Ab-<lb/>
handlung folgen werde. Es iſt werth, daß ein jeder den gantzen<lb/>
Diſcours leſe, weil er das ſtaͤrckſte iſt, was ich wieder die Opern<lb/>
gefunden habe. Er iſt aber damit nicht zufrieden, daß er eine<lb/>
Critick daruͤber geſchrieben: ſondern hat ſich die Muͤhe genommen,<lb/>
eine gantze Comoͤdie zu machen, der er den Titel, <hirendition="#aq">les Opera,</hi> gege-<lb/>
ben. Seine Abſicht darinn iſt, nach dem Muſter des Cervantes<lb/>
in dem Quixote, das laͤcherliche der Opern empfindlich zu machen:<lb/>
Darum dichtet er, daß ein junges Frauenzimmer in einer kleinen<lb/>
Stadt, aus dem beſtaͤndigen Leſen der <hirendition="#aq">Recueils des Opera</hi> verruͤckt<lb/>
im Kopfe geworden, und anſtatt der gewoͤhnlichen Sprache, den<lb/>
Leuten lauter Opern-Arien vorgeſungen. Der Knoten in der Fabel<lb/>
iſt dieſer, daß ſie einen alten Officier zum Freyer bekommt, dem ſie<lb/>
aber in lauter galanten Liederchen den Korb giebt, und ihren El-<lb/>
tern ſelbſt den Kopf mit ihrem Singen wuͤſte macht: Jndeſſen aber<lb/>
mit einem andern jungen Stutzer, der ſich ihrer Thorheit bequeme-<lb/>
te, und ihr auch lauter muſicaliſche Liebeserklaͤrungen that, gantze<lb/>
Oper-Scenen von Cadmus und Hermionen ſpielete. Jch bin<lb/>
verſichert, daß der groͤſte Opern-Freund ſich bey einer ſolchen Co-<lb/>
moͤdie des Lachens nicht ſollte enthalten koͤnnen.</p><lb/><p>Endlich und zum <hirendition="#aq">V</hi>ten will ich mich auf den ſinnreichen <hirendition="#aq">Des<lb/>
Callieres</hi> beruffen; der wie bekannt, Verfaſſer der <hirendition="#aq">Hiſtoire po-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">etique</hi></fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[610/0638]
Des II Theils XII Capitel
ſie. Ach Schweſter, genug; wir muͤſſen uns trennen. Jch will
mich entfernen: und denn laß einmahl ſehen, was du ohne mich
ausrichten wirſt. ꝛc. Hieraus iſt nun leicht die Urſache zu errathen,
warum dieſer große Criticus in ſeiner Art Poetique, wo er aller
uͤbrigen Gedichte denckt, an die Oper mit keiner Sylbe gedacht:
Wohl aber in ſeinen Satiren den damahligen groͤſten Opernſchrei-
ber Quinaut ausgelacht.
La raiſon dit Virgile et la rime Quinaut.
Mein IVtes Zeugniß ſoll mir St. Evremont geben; der einen
eigenen Diſcours uͤber die Opern gemacht, und darinn ſeine Gedan-
cken davon ausfuͤhrlich entdecket hat. Er ſetzt gleich anfangs die-
ſe Beſchreibung der Oper zum Grunde: Sie ſey ein ungereim-
ter Miſchmaſch von Poeſie und Muſic, wo der Dichter und Com-
poniſt ſich ſehr viel Muͤhe machen, und einander die groͤſte Gewalt
anthun, ein ſehr elendes Werck zu Stande zu bringen. Nun
kan man ſich leicht einbilden, was auf dieſen Eingang vor eine Ab-
handlung folgen werde. Es iſt werth, daß ein jeder den gantzen
Diſcours leſe, weil er das ſtaͤrckſte iſt, was ich wieder die Opern
gefunden habe. Er iſt aber damit nicht zufrieden, daß er eine
Critick daruͤber geſchrieben: ſondern hat ſich die Muͤhe genommen,
eine gantze Comoͤdie zu machen, der er den Titel, les Opera, gege-
ben. Seine Abſicht darinn iſt, nach dem Muſter des Cervantes
in dem Quixote, das laͤcherliche der Opern empfindlich zu machen:
Darum dichtet er, daß ein junges Frauenzimmer in einer kleinen
Stadt, aus dem beſtaͤndigen Leſen der Recueils des Opera verruͤckt
im Kopfe geworden, und anſtatt der gewoͤhnlichen Sprache, den
Leuten lauter Opern-Arien vorgeſungen. Der Knoten in der Fabel
iſt dieſer, daß ſie einen alten Officier zum Freyer bekommt, dem ſie
aber in lauter galanten Liederchen den Korb giebt, und ihren El-
tern ſelbſt den Kopf mit ihrem Singen wuͤſte macht: Jndeſſen aber
mit einem andern jungen Stutzer, der ſich ihrer Thorheit bequeme-
te, und ihr auch lauter muſicaliſche Liebeserklaͤrungen that, gantze
Oper-Scenen von Cadmus und Hermionen ſpielete. Jch bin
verſichert, daß der groͤſte Opern-Freund ſich bey einer ſolchen Co-
moͤdie des Lachens nicht ſollte enthalten koͤnnen.
Endlich und zum Vten will ich mich auf den ſinnreichen Des
Callieres beruffen; der wie bekannt, Verfaſſer der Hiſtoire po-
etique
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/638>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.