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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils XII Capitel
zum wenigsten in jeder Handlung ändern, bald einen gülde-
nen Pallast, bald eine wilde See, bald Felsen und wüste Klip-
pen, bald einen Garten, bald sonst eine bezauberte Gegend
vorstellen. Es musten viel Götter in allerhand Maschinen
erscheinen: Und sonderlich musten die Arien dem Musico viel
Gelegenheit geben, seine Künste anzubringen. Dabey hub
man alle Regeln der guten Trauer- und Lust-Spiele gäntz-
lich auf. Es wurde nicht mehr auf die Erregung des Schre-
ckens und des Mitleidens, nicht auf die Verlachung mensch-
licher Thorheiten gesehen: Sondern die phantastische Ro-
man-Liebe behielte allein Platz. Die Einigkeit der Zeit und
des Ortes wurde aus den Agen gesetzet; die Schreib-Art
wurde hochtrabend und ausschweifend; die Charactere wa-
ren theils übel formiret, theils immer einerley, nehmlich lau-
ter untreue Seelen, seufzende Buhler, unerbittliche Schö-
nen, verzweifelnde Liebhaber u. d. gl. Mit einem Worte, die
Opera wurde ein gantz nagel-neues Stück in der Poesie, da-
von sich bey den Alten wohl niemand hätte träumen lassen.

Jch habe bisher nur eine kurtze Erzehlung von der Oper
gemacht; und meine Gedancken davon noch nicht gesagt.
Allein aus dem obigen wird man leicht sehen können, was ich
davon halte. Wenn nicht die Regeln der gantzen Poesie
übern Haufen fallen sollen: So muß ich sagen: Die Opera
sey das ungereimteste Werck, so der menschliche Verstand
jemahls erfunden. Ein jeder kan aus der Beschreibung ei-
nes Gedichtes überhaupt den Beweiß machen. Ein Gedich-
te oder eine Fabel muß eine Nachahmung einer menschlichen
Handlung seyn, dadurch eine gewisse moralische Lehre bestä-
tiget wird. Eine Nachahmung aber, die der Natur nicht
ähnlich ist, taugt nichts: denn ihr gantzer Werth entsteht von
der Aehnlichkeit. Aus dieser aber sind alle die Regeln geflos-
sen, die wir oben von der Schau-Bühne, sowohl vor die Tra-
gödie als Comödie gegeben haben. Diese Regeln sind also aus
der Natur selbst genommen, durch den Beyfall der grösten
Meister und Kenner von Schau-Spielen bestärcket, und bey
den gescheutesten Völckern gut geheissen worden. Was al-
so davon abweichet, ist unmöglich recht, und wohl nachgeah-

met.

Des II Theils XII Capitel
zum wenigſten in jeder Handlung aͤndern, bald einen guͤlde-
nen Pallaſt, bald eine wilde See, bald Felſen und wuͤſte Klip-
pen, bald einen Garten, bald ſonſt eine bezauberte Gegend
vorſtellen. Es muſten viel Goͤtter in allerhand Maſchinen
erſcheinen: Und ſonderlich muſten die Arien dem Muſico viel
Gelegenheit geben, ſeine Kuͤnſte anzubringen. Dabey hub
man alle Regeln der guten Trauer- und Luſt-Spiele gaͤntz-
lich auf. Es wurde nicht mehr auf die Erregung des Schre-
ckens und des Mitleidens, nicht auf die Verlachung menſch-
licher Thorheiten geſehen: Sondern die phantaſtiſche Ro-
man-Liebe behielte allein Platz. Die Einigkeit der Zeit und
des Ortes wurde aus den Agen geſetzet; die Schreib-Art
wurde hochtrabend und ausſchweifend; die Charactere wa-
ren theils uͤbel formiret, theils immer einerley, nehmlich lau-
ter untreue Seelen, ſeufzende Buhler, unerbittliche Schoͤ-
nen, verzweifelnde Liebhaber u. d. gl. Mit einem Worte, die
Opera wurde ein gantz nagel-neues Stuͤck in der Poeſie, da-
von ſich bey den Alten wohl niemand haͤtte traͤumen laſſen.

Jch habe bisher nur eine kurtze Erzehlung von der Oper
gemacht; und meine Gedancken davon noch nicht geſagt.
Allein aus dem obigen wird man leicht ſehen koͤnnen, was ich
davon halte. Wenn nicht die Regeln der gantzen Poeſie
uͤbern Haufen fallen ſollen: So muß ich ſagen: Die Opera
ſey das ungereimteſte Werck, ſo der menſchliche Verſtand
jemahls erfunden. Ein jeder kan aus der Beſchreibung ei-
nes Gedichtes uͤberhaupt den Beweiß machen. Ein Gedich-
te oder eine Fabel muß eine Nachahmung einer menſchlichen
Handlung ſeyn, dadurch eine gewiſſe moraliſche Lehre beſtaͤ-
tiget wird. Eine Nachahmung aber, die der Natur nicht
aͤhnlich iſt, taugt nichts: denn ihr gantzer Werth entſteht von
der Aehnlichkeit. Aus dieſer aber ſind alle die Regeln gefloſ-
ſen, die wir oben von der Schau-Buͤhne, ſowohl vor die Tra-
goͤdie als Comoͤdie gegeben haben. Dieſe Regeln ſind alſo aus
der Natur ſelbſt genommen, durch den Beyfall der groͤſten
Meiſter und Kenner von Schau-Spielen beſtaͤrcket, und bey
den geſcheuteſten Voͤlckern gut geheiſſen worden. Was al-
ſo davon abweichet, iſt unmoͤglich recht, und wohl nachgeah-

met.
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[604/0632] Des II Theils XII Capitel zum wenigſten in jeder Handlung aͤndern, bald einen guͤlde- nen Pallaſt, bald eine wilde See, bald Felſen und wuͤſte Klip- pen, bald einen Garten, bald ſonſt eine bezauberte Gegend vorſtellen. Es muſten viel Goͤtter in allerhand Maſchinen erſcheinen: Und ſonderlich muſten die Arien dem Muſico viel Gelegenheit geben, ſeine Kuͤnſte anzubringen. Dabey hub man alle Regeln der guten Trauer- und Luſt-Spiele gaͤntz- lich auf. Es wurde nicht mehr auf die Erregung des Schre- ckens und des Mitleidens, nicht auf die Verlachung menſch- licher Thorheiten geſehen: Sondern die phantaſtiſche Ro- man-Liebe behielte allein Platz. Die Einigkeit der Zeit und des Ortes wurde aus den Agen geſetzet; die Schreib-Art wurde hochtrabend und ausſchweifend; die Charactere wa- ren theils uͤbel formiret, theils immer einerley, nehmlich lau- ter untreue Seelen, ſeufzende Buhler, unerbittliche Schoͤ- nen, verzweifelnde Liebhaber u. d. gl. Mit einem Worte, die Opera wurde ein gantz nagel-neues Stuͤck in der Poeſie, da- von ſich bey den Alten wohl niemand haͤtte traͤumen laſſen. Jch habe bisher nur eine kurtze Erzehlung von der Oper gemacht; und meine Gedancken davon noch nicht geſagt. Allein aus dem obigen wird man leicht ſehen koͤnnen, was ich davon halte. Wenn nicht die Regeln der gantzen Poeſie uͤbern Haufen fallen ſollen: So muß ich ſagen: Die Opera ſey das ungereimteſte Werck, ſo der menſchliche Verſtand jemahls erfunden. Ein jeder kan aus der Beſchreibung ei- nes Gedichtes uͤberhaupt den Beweiß machen. Ein Gedich- te oder eine Fabel muß eine Nachahmung einer menſchlichen Handlung ſeyn, dadurch eine gewiſſe moraliſche Lehre beſtaͤ- tiget wird. Eine Nachahmung aber, die der Natur nicht aͤhnlich iſt, taugt nichts: denn ihr gantzer Werth entſteht von der Aehnlichkeit. Aus dieſer aber ſind alle die Regeln gefloſ- ſen, die wir oben von der Schau-Buͤhne, ſowohl vor die Tra- goͤdie als Comoͤdie gegeben haben. Dieſe Regeln ſind alſo aus der Natur ſelbſt genommen, durch den Beyfall der groͤſten Meiſter und Kenner von Schau-Spielen beſtaͤrcket, und bey den geſcheuteſten Voͤlckern gut geheiſſen worden. Was al- ſo davon abweichet, iſt unmoͤglich recht, und wohl nachgeah- met.

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/632>, abgerufen am 24.11.2024.