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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils XI Capitel
zehlt aber die Scenen nach dem Auf- und Abtritte einer Per-
son. Sobald eine kommt, oder eine weggeht, rechnet man
eine neue Scene, und nachdem sie kurtz oder lang gerathen,
müssen auch viele oder wenige zu einer Handlung seyn. Das
mercke ich hier abermahl an, daß die Bühne niemahls gantz
leer werden müsse, als bis die Handlung aus ist. Es läßt
heßlich, wenn hier ein paar alte davon laufen, und dort ein
paar frische hervor treten, die miteinander kein Wort zu
wechseln haben. Und da kan es leichtlich kommen, daß die
Zwischen-Fabeln nicht recht mit der Haupt-Fabel zusammen
hängen. Wenn also jemand auftritt, muß er allezeit jeman-
den finden, mit dem er redet: und wenn jemand weggeht,
muß er einen da lassen, der die Bühne füllet. Das heißt bey
Boileau

Et les Scenes toujours l' une a l' autre liees.

Da ich von Scenen handle, muß ich auch der einzelnen
Scenen gedencken, wo nur eine Person auftritt. Bey den
Alten hatten diese mehr Wahrscheinlichkeit als bey uns; weil
nehmlich da der Chor allezeit auf der Bühne stund, und mit
vor eine Person anzusehen war. Und also redete da die ein-
zelne Person nicht mit sich selbst. Bey uns aber ist die Büh-
ne leer: Und die Zuschauer gehören nicht mit in die Comödie:
folglich hat die Person niemanden, den sie anreden könnte.
Kluge Leute aber pflegen nicht laut zu reden, wenn sie allein
sind. Es wäre denn in besondern Affecten, und das zwar mit
wenig Worten. Daher kommen mir die meisten einzelnen
Scenen sehr unnatürlich vor; und außer der ersten im Geitz-
halse des Moliere, wüste ich fast keine zu nennen, die mir ge-
fallen hätte. Man hüte sich also davor, so viel man kan; wel-
ches auch mehrentheils angeht, wenn man dem redenden noch
sonst jemand zugiebt, der das, was er sagt, ohne Gefahr wis-
sen oder hören darf. Eben so übel steht es, wenn jemand vor
sich auf der Schaubühne redet, doch so, daß der andre, der
dabey steht, es nicht hören soll: gleichwohl aber so laut spricht,
daß der gantze Schauplatz es verstehen kan. Was hier vor
eine Wahrscheinlichkeit stecke; habe ich niemahls ergründen
können: Es wäre denn, daß die anwesende Person auf eine
so kurtze Zeit ihr Gehör verlohren hätte.

Von

Des II Theils XI Capitel
zehlt aber die Scenen nach dem Auf- und Abtritte einer Per-
ſon. Sobald eine kommt, oder eine weggeht, rechnet man
eine neue Scene, und nachdem ſie kurtz oder lang gerathen,
muͤſſen auch viele oder wenige zu einer Handlung ſeyn. Das
mercke ich hier abermahl an, daß die Buͤhne niemahls gantz
leer werden muͤſſe, als bis die Handlung aus iſt. Es laͤßt
heßlich, wenn hier ein paar alte davon laufen, und dort ein
paar friſche hervor treten, die miteinander kein Wort zu
wechſeln haben. Und da kan es leichtlich kommen, daß die
Zwiſchen-Fabeln nicht recht mit der Haupt-Fabel zuſammen
haͤngen. Wenn alſo jemand auftritt, muß er allezeit jeman-
den finden, mit dem er redet: und wenn jemand weggeht,
muß er einen da laſſen, der die Buͤhne fuͤllet. Das heißt bey
Boileau

Et les Scenes toujours l’ une à l’ autre liées.

Da ich von Scenen handle, muß ich auch der einzelnen
Scenen gedencken, wo nur eine Perſon auftritt. Bey den
Alten hatten dieſe mehr Wahrſcheinlichkeit als bey uns; weil
nehmlich da der Chor allezeit auf der Buͤhne ſtund, und mit
vor eine Perſon anzuſehen war. Und alſo redete da die ein-
zelne Perſon nicht mit ſich ſelbſt. Bey uns aber iſt die Buͤh-
ne leer: Und die Zuſchauer gehoͤren nicht mit in die Comoͤdie:
folglich hat die Perſon niemanden, den ſie anreden koͤnnte.
Kluge Leute aber pflegen nicht laut zu reden, wenn ſie allein
ſind. Es waͤre denn in beſondern Affecten, und das zwar mit
wenig Worten. Daher kommen mir die meiſten einzelnen
Scenen ſehr unnatuͤrlich vor; und außer der erſten im Geitz-
halſe des Moliere, wuͤſte ich faſt keine zu nennen, die mir ge-
fallen haͤtte. Man huͤte ſich alſo davor, ſo viel man kan; wel-
ches auch mehrentheils angeht, wenn man dem redenden noch
ſonſt jemand zugiebt, der das, was er ſagt, ohne Gefahr wiſ-
ſen oder hoͤren darf. Eben ſo uͤbel ſteht es, wenn jemand vor
ſich auf der Schaubuͤhne redet, doch ſo, daß der andre, der
dabey ſteht, es nicht hoͤren ſoll: gleichwohl aber ſo laut ſpricht,
daß der gantze Schauplatz es verſtehen kan. Was hier vor
eine Wahrſcheinlichkeit ſtecke; habe ich niemahls ergruͤnden
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ſo kurtze Zeit ihr Gehoͤr verlohren haͤtte.

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[598/0626] Des II Theils XI Capitel zehlt aber die Scenen nach dem Auf- und Abtritte einer Per- ſon. Sobald eine kommt, oder eine weggeht, rechnet man eine neue Scene, und nachdem ſie kurtz oder lang gerathen, muͤſſen auch viele oder wenige zu einer Handlung ſeyn. Das mercke ich hier abermahl an, daß die Buͤhne niemahls gantz leer werden muͤſſe, als bis die Handlung aus iſt. Es laͤßt heßlich, wenn hier ein paar alte davon laufen, und dort ein paar friſche hervor treten, die miteinander kein Wort zu wechſeln haben. Und da kan es leichtlich kommen, daß die Zwiſchen-Fabeln nicht recht mit der Haupt-Fabel zuſammen haͤngen. Wenn alſo jemand auftritt, muß er allezeit jeman- den finden, mit dem er redet: und wenn jemand weggeht, muß er einen da laſſen, der die Buͤhne fuͤllet. Das heißt bey Boileau Et les Scenes toujours l’ une à l’ autre liées. Da ich von Scenen handle, muß ich auch der einzelnen Scenen gedencken, wo nur eine Perſon auftritt. Bey den Alten hatten dieſe mehr Wahrſcheinlichkeit als bey uns; weil nehmlich da der Chor allezeit auf der Buͤhne ſtund, und mit vor eine Perſon anzuſehen war. Und alſo redete da die ein- zelne Perſon nicht mit ſich ſelbſt. Bey uns aber iſt die Buͤh- ne leer: Und die Zuſchauer gehoͤren nicht mit in die Comoͤdie: folglich hat die Perſon niemanden, den ſie anreden koͤnnte. Kluge Leute aber pflegen nicht laut zu reden, wenn ſie allein ſind. Es waͤre denn in beſondern Affecten, und das zwar mit wenig Worten. Daher kommen mir die meiſten einzelnen Scenen ſehr unnatuͤrlich vor; und außer der erſten im Geitz- halſe des Moliere, wuͤſte ich faſt keine zu nennen, die mir ge- fallen haͤtte. Man huͤte ſich alſo davor, ſo viel man kan; wel- ches auch mehrentheils angeht, wenn man dem redenden noch ſonſt jemand zugiebt, der das, was er ſagt, ohne Gefahr wiſ- ſen oder hoͤren darf. Eben ſo uͤbel ſteht es, wenn jemand vor ſich auf der Schaubuͤhne redet, doch ſo, daß der andre, der dabey ſteht, es nicht hoͤren ſoll: gleichwohl aber ſo laut ſpricht, daß der gantze Schauplatz es verſtehen kan. Was hier vor eine Wahrſcheinlichkeit ſtecke; habe ich niemahls ergruͤnden koͤnnen: Es waͤre denn, daß die anweſende Perſon auf eine ſo kurtze Zeit ihr Gehoͤr verlohren haͤtte. Von

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/626>, abgerufen am 24.11.2024.