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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Comödien oder Lustspielen.
HErrn zum Adam kommen und mit seinen Kindern, deren er
ihm ein halb Dutzend fromme, und ein halb Dutzend gottlose
dichtet, ein Examen aus D. Luthers Catechismo halten läst.
Wie er nun den Abel und seine Cameraden im Vater Unser,
Glauben und den zehen Geboten wohl bewandert findet: Al-
so besteht Cain mit seinen bösen Brüdern sehr übel, wenn er
sein Vater Unser so verstümmelt herbetet:

O Vater Himmel unser,
Laß uns allhier dein Reich geschehen
Jn Himmel und in Erden sehen,
Gib uns Schuld und täglich viel Brodt,
Und alles Uebel, Angst und Noth.

Eben so fein machts der andre, den er Dathan nennet, und
der den Glauben hersagen soll. Es heißt:

Jch glaub an GOtt Himmel und Erden,
Und auch des Saamens Weib muß werden,
Und des heiligen Geistes Nahmen
Die Sünde, Fleisch und Leben. Amen.

Man sieht aus diesen und andern Proben wohl, daß der ehr-
liche Mann kein übel Geschicke zur Beobachtung der Chara-
ctere und Nachahmung der Natur gehabt: Allein die Re-
geln der Wahrscheinlichkeit sind ihm gantz unbekannt gewe-
sen; sonst würde er keine solche Vermischung der Zeiten ge-
macht haben, als aus dem angeführten sattsam erhellen wird.

Andreas Gryphius hat es ohne Zweifel in Comödien
bey uns am weitesten gebracht. Seine Säug-Amme, sein
Horribilicribrifax und Peter Sqventz sind sehr wohl gerathen,
und stellen solche lächerliche Thorheiten vor, die dem Zu-
schauer viel Vergnügen und Nutzen schaffen können. Chri-
stian Weise hat ihm nachfolgen wollen; und kein übel Talent
dazu gehabt: Allein, wie ihm überhaupt die Regeln der alten
Rede-Kunst und Poesie unbekannt gewesen, so ist er bey sei-
nem selbstgewachsenen Witze geblieben, und hat lauter un-
richtige Stücke gemacht. Man will ihn mehrentheils da-
mit entschuldigen, daß er sich genöthiget gesehen, allen seinen
Schülern was zu thun zu geben: Allein, wer nöthigte ihn
dazu, sie alle in einer Comödie zu brauchen? Er hätte sie wech-

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Von Comoͤdien oder Luſtſpielen.
HErrn zum Adam kommen und mit ſeinen Kindern, deren er
ihm ein halb Dutzend fromme, und ein halb Dutzend gottloſe
dichtet, ein Examen aus D. Luthers Catechiſmo halten laͤſt.
Wie er nun den Abel und ſeine Cameraden im Vater Unſer,
Glauben und den zehen Geboten wohl bewandert findet: Al-
ſo beſteht Cain mit ſeinen boͤſen Bruͤdern ſehr uͤbel, wenn er
ſein Vater Unſer ſo verſtuͤmmelt herbetet:

O Vater Himmel unſer,
Laß uns allhier dein Reich geſchehen
Jn Himmel und in Erden ſehen,
Gib uns Schuld und taͤglich viel Brodt,
Und alles Uebel, Angſt und Noth.

Eben ſo fein machts der andre, den er Dathan nennet, und
der den Glauben herſagen ſoll. Es heißt:

Jch glaub an GOtt Himmel und Erden,
Und auch des Saamens Weib muß werden,
Und des heiligen Geiſtes Nahmen
Die Suͤnde, Fleiſch und Leben. Amen.

Man ſieht aus dieſen und andern Proben wohl, daß der ehr-
liche Mann kein uͤbel Geſchicke zur Beobachtung der Chara-
ctere und Nachahmung der Natur gehabt: Allein die Re-
geln der Wahrſcheinlichkeit ſind ihm gantz unbekannt gewe-
ſen; ſonſt wuͤrde er keine ſolche Vermiſchung der Zeiten ge-
macht haben, als aus dem angefuͤhrten ſattſam erhellen wird.

Andreas Gryphius hat es ohne Zweifel in Comoͤdien
bey uns am weiteſten gebracht. Seine Saͤug-Amme, ſein
Horribilicribrifax und Peter Sqventz ſind ſehr wohl gerathen,
und ſtellen ſolche laͤcherliche Thorheiten vor, die dem Zu-
ſchauer viel Vergnuͤgen und Nutzen ſchaffen koͤnnen. Chri-
ſtian Weiſe hat ihm nachfolgen wollen; und kein uͤbel Talent
dazu gehabt: Allein, wie ihm uͤberhaupt die Regeln der alten
Rede-Kunſt und Poeſie unbekannt geweſen, ſo iſt er bey ſei-
nem ſelbſtgewachſenen Witze geblieben, und hat lauter un-
richtige Stuͤcke gemacht. Man will ihn mehrentheils da-
mit entſchuldigen, daß er ſich genoͤthiget geſehen, allen ſeinen
Schuͤlern was zu thun zu geben: Allein, wer noͤthigte ihn
dazu, ſie alle in einer Comoͤdie zu brauchen? Er haͤtte ſie wech-

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[593/0621] Von Comoͤdien oder Luſtſpielen. HErrn zum Adam kommen und mit ſeinen Kindern, deren er ihm ein halb Dutzend fromme, und ein halb Dutzend gottloſe dichtet, ein Examen aus D. Luthers Catechiſmo halten laͤſt. Wie er nun den Abel und ſeine Cameraden im Vater Unſer, Glauben und den zehen Geboten wohl bewandert findet: Al- ſo beſteht Cain mit ſeinen boͤſen Bruͤdern ſehr uͤbel, wenn er ſein Vater Unſer ſo verſtuͤmmelt herbetet: O Vater Himmel unſer, Laß uns allhier dein Reich geſchehen Jn Himmel und in Erden ſehen, Gib uns Schuld und taͤglich viel Brodt, Und alles Uebel, Angſt und Noth. Eben ſo fein machts der andre, den er Dathan nennet, und der den Glauben herſagen ſoll. Es heißt: Jch glaub an GOtt Himmel und Erden, Und auch des Saamens Weib muß werden, Und des heiligen Geiſtes Nahmen Die Suͤnde, Fleiſch und Leben. Amen. Man ſieht aus dieſen und andern Proben wohl, daß der ehr- liche Mann kein uͤbel Geſchicke zur Beobachtung der Chara- ctere und Nachahmung der Natur gehabt: Allein die Re- geln der Wahrſcheinlichkeit ſind ihm gantz unbekannt gewe- ſen; ſonſt wuͤrde er keine ſolche Vermiſchung der Zeiten ge- macht haben, als aus dem angefuͤhrten ſattſam erhellen wird. Andreas Gryphius hat es ohne Zweifel in Comoͤdien bey uns am weiteſten gebracht. Seine Saͤug-Amme, ſein Horribilicribrifax und Peter Sqventz ſind ſehr wohl gerathen, und ſtellen ſolche laͤcherliche Thorheiten vor, die dem Zu- ſchauer viel Vergnuͤgen und Nutzen ſchaffen koͤnnen. Chri- ſtian Weiſe hat ihm nachfolgen wollen; und kein uͤbel Talent dazu gehabt: Allein, wie ihm uͤberhaupt die Regeln der alten Rede-Kunſt und Poeſie unbekannt geweſen, ſo iſt er bey ſei- nem ſelbſtgewachſenen Witze geblieben, und hat lauter un- richtige Stuͤcke gemacht. Man will ihn mehrentheils da- mit entſchuldigen, daß er ſich genoͤthiget geſehen, allen ſeinen Schuͤlern was zu thun zu geben: Allein, wer noͤthigte ihn dazu, ſie alle in einer Comoͤdie zu brauchen? Er haͤtte ſie wech- ſels- P p

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/621>, abgerufen am 27.11.2024.