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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Comödien oder Lustspielen.

Die Engelländer haben zwar auch kein regelmäßiges
Theater, indessen sind sie doch den Jtalienern weit überlegen.
Sie rühmen ihren Etheridge, Wicherley und Congreve, son-
derlich in diesem Stücke; und Dryden selbst hat sich in Comö-
dien versuchet. Sonderlich prahlen sie mit ihrem Humour,
darinn sie alle alte und neue Nationen übertroffen zu haben
glauben. Dryden beschreibt denselben: the ridiculous Extra-
vagance of Conversation, wherein one Men differs from
all others.
d. i. die lächerliche Art im Umgange, darinnen ein
Mensch sich von allen andern unterscheidet. Da die Engli-
sche Nation viel solche Originale von besondern Arten des
Eigensinnes und der Fantasie aufzuweisen hat; wie aus dem
Spectateur erhellet: So ist es gewiß, daß diese sonderbare
Thorheiten lächerliche Vorstellungen genug auf die Schau-
Bühne verschaffen werden. Allein, da das Werck der Co-
mödie nicht ist, einzelne Personen zu spotten; sondern allge-
meine Thorheiten lächerlich zu machen, wie hernach erwiesen
werden soll: So sehen wir wohl, daß die Engelländer nach
ihrer Gewohnheit von ihrer Nation zu großsprecherisch ur-
theilen. Jhr Johnson hat ihnen Regeln der Schau-Bühne
geschrieben, daraus Dryden auch viel Wercks macht: der
doch selbst in den Vorreden zu seinen Schau-Spielen die
Regeln allezeit nach seinem Exempel verdreht. So viel müs-
sen wir indessen mit St. Evremont und Voltairen gestehen,
daß die englische Comödie sehr viel moralische lasterhaffte
Charactere lächerlich aufführet; und darinn an Reichthum
und Nachdruck allen andern Nationen vorgeht.

Die Frantzosen haben es wohl unstreitig, wie in der Tra-
gödie; also auch in der Comödie am höchsten gebracht. Mo-
liere hat seine Stücke allezeit nach den Regeln und Exempeln
der Alten eingerichtet. Er ist auch reicher an Materien als
Terentius: welches aber kein Wunder ist, weil dieser nur
sechs er aber wohl drey, viermahl so viel Comödien geschrie-
ben. Aber er ist gleichwohl von allen Fehlern nicht frey.
Seine Schreib-Art, sonderlich die poetische, ist nicht allezeit so
natürlich, als sie vor Comödien wohl seyn sollte. Er macht offt
grosse Umschweife sehr wenig damit zu sagen; und kommt

dem
Von Comoͤdien oder Luſtſpielen.

Die Engellaͤnder haben zwar auch kein regelmaͤßiges
Theater, indeſſen ſind ſie doch den Jtalienern weit uͤberlegen.
Sie ruͤhmen ihren Etheridge, Wicherley und Congreve, ſon-
derlich in dieſem Stuͤcke; und Dryden ſelbſt hat ſich in Comoͤ-
dien verſuchet. Sonderlich prahlen ſie mit ihrem Humour,
darinn ſie alle alte und neue Nationen uͤbertroffen zu haben
glauben. Dryden beſchreibt denſelben: the ridiculous Extra-
vagance of Converſation, wherein one Men differs from
all others.
d. i. die laͤcherliche Art im Umgange, darinnen ein
Menſch ſich von allen andern unterſcheidet. Da die Engli-
ſche Nation viel ſolche Originale von beſondern Arten des
Eigenſinnes und der Fantaſie aufzuweiſen hat; wie aus dem
Spectateur erhellet: So iſt es gewiß, daß dieſe ſonderbare
Thorheiten laͤcherliche Vorſtellungen genug auf die Schau-
Buͤhne verſchaffen werden. Allein, da das Werck der Co-
moͤdie nicht iſt, einzelne Perſonen zu ſpotten; ſondern allge-
meine Thorheiten laͤcherlich zu machen, wie hernach erwieſen
werden ſoll: So ſehen wir wohl, daß die Engellaͤnder nach
ihrer Gewohnheit von ihrer Nation zu großſprecheriſch ur-
theilen. Jhr Johnſon hat ihnen Regeln der Schau-Buͤhne
geſchrieben, daraus Dryden auch viel Wercks macht: der
doch ſelbſt in den Vorreden zu ſeinen Schau-Spielen die
Regeln allezeit nach ſeinem Exempel verdreht. So viel muͤſ-
ſen wir indeſſen mit St. Evremont und Voltairen geſtehen,
daß die engliſche Comoͤdie ſehr viel moraliſche laſterhaffte
Charactere laͤcherlich auffuͤhret; und darinn an Reichthum
und Nachdruck allen andern Nationen vorgeht.

Die Frantzoſen haben es wohl unſtreitig, wie in der Tra-
goͤdie; alſo auch in der Comoͤdie am hoͤchſten gebracht. Mo-
liere hat ſeine Stuͤcke allezeit nach den Regeln und Exempeln
der Alten eingerichtet. Er iſt auch reicher an Materien als
Terentius: welches aber kein Wunder iſt, weil dieſer nur
ſechs er aber wohl drey, viermahl ſo viel Comoͤdien geſchrie-
ben. Aber er iſt gleichwohl von allen Fehlern nicht frey.
Seine Schreib-Art, ſonderlich die poetiſche, iſt nicht allezeit ſo
natuͤrlich, als ſie vor Comoͤdien wohl ſeyn ſollte. Er macht offt
groſſe Umſchweife ſehr wenig damit zu ſagen; und kommt

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[591/0619] Von Comoͤdien oder Luſtſpielen. Die Engellaͤnder haben zwar auch kein regelmaͤßiges Theater, indeſſen ſind ſie doch den Jtalienern weit uͤberlegen. Sie ruͤhmen ihren Etheridge, Wicherley und Congreve, ſon- derlich in dieſem Stuͤcke; und Dryden ſelbſt hat ſich in Comoͤ- dien verſuchet. Sonderlich prahlen ſie mit ihrem Humour, darinn ſie alle alte und neue Nationen uͤbertroffen zu haben glauben. Dryden beſchreibt denſelben: the ridiculous Extra- vagance of Converſation, wherein one Men differs from all others. d. i. die laͤcherliche Art im Umgange, darinnen ein Menſch ſich von allen andern unterſcheidet. Da die Engli- ſche Nation viel ſolche Originale von beſondern Arten des Eigenſinnes und der Fantaſie aufzuweiſen hat; wie aus dem Spectateur erhellet: So iſt es gewiß, daß dieſe ſonderbare Thorheiten laͤcherliche Vorſtellungen genug auf die Schau- Buͤhne verſchaffen werden. Allein, da das Werck der Co- moͤdie nicht iſt, einzelne Perſonen zu ſpotten; ſondern allge- meine Thorheiten laͤcherlich zu machen, wie hernach erwieſen werden ſoll: So ſehen wir wohl, daß die Engellaͤnder nach ihrer Gewohnheit von ihrer Nation zu großſprecheriſch ur- theilen. Jhr Johnſon hat ihnen Regeln der Schau-Buͤhne geſchrieben, daraus Dryden auch viel Wercks macht: der doch ſelbſt in den Vorreden zu ſeinen Schau-Spielen die Regeln allezeit nach ſeinem Exempel verdreht. So viel muͤſ- ſen wir indeſſen mit St. Evremont und Voltairen geſtehen, daß die engliſche Comoͤdie ſehr viel moraliſche laſterhaffte Charactere laͤcherlich auffuͤhret; und darinn an Reichthum und Nachdruck allen andern Nationen vorgeht. Die Frantzoſen haben es wohl unſtreitig, wie in der Tra- goͤdie; alſo auch in der Comoͤdie am hoͤchſten gebracht. Mo- liere hat ſeine Stuͤcke allezeit nach den Regeln und Exempeln der Alten eingerichtet. Er iſt auch reicher an Materien als Terentius: welches aber kein Wunder iſt, weil dieſer nur ſechs er aber wohl drey, viermahl ſo viel Comoͤdien geſchrie- ben. Aber er iſt gleichwohl von allen Fehlern nicht frey. Seine Schreib-Art, ſonderlich die poetiſche, iſt nicht allezeit ſo natuͤrlich, als ſie vor Comoͤdien wohl ſeyn ſollte. Er macht offt groſſe Umſchweife ſehr wenig damit zu ſagen; und kommt dem

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/619>, abgerufen am 27.11.2024.