Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Von Comödien oder Lustspielen.
Carmine qui tragico vilem certauit ob hircum
Mox etiam agrestes Satyros nudauit; & asper
Incolumi grauitate jocum tentauit; eo quod
Illecebris erat, & grata nouitate morandus
Spectator, functusque sacris, & potus & exlex.

Hier finden wir alles beysammen, den Ursprung, den Jnhalt,
auch die Absicht der ältesten Comödien. Aus den tragischen
Liedern sind sie entstanden, und zwar bey Gelegenheit der
Fest-Tage. Jhr Jnhalt ist ein scharfer oder beissender
Schertz gewesen, den sie von lauter bäurischen Satyren, das
ist halbnackten Bauren absingen oder spielen ließen. Und
die Absicht war, dem Volcke nach vollbrachtem Gottes-Dien-
ste und vollendetem Schmause durch eine neue Lustbarkeit die
Zeit zu vertreiben. Dieses war nun die alte Comödie.

Sobald sie nun von dem Crates ins Geschicke gebracht
worden, fanden sich bald Eupolis, Cratinus und Aristopha-
nes, die ihr ein gantz ander Ansehen gaben. Die vorige Heff-
tigkeit nackter Satiren wurde in eine lächerliche Vorstellung
gewisser Personen verwandelt, die man sich nicht scheuete mit
Nahmen zu nennen. So finden wir, daß die vornehmsten
Leute in Athen vor den Poeten nicht sicher gewesen; ja selbst
Socrates von ihnen öffentlich verspottet worden: da ihn Ari-
stophanes in dem Stücke, so er die Wolcken nennet; als einen
wunderlichen Natur-Forscher und gottlosen Atheisten vorge-
stellet. Sonderlich sungen die Chöre dieser Comödien nichts
als ehrenrührige Schmäh-Lieder, dadurch die Unschuldigsten
angegriffen wurden. Daher kam es denn, daß die Obrigkeit
dieser Frechheit Einhalt that, und die Chöre gantz abzuschaf-
fen, auch keine Person mehr mit Nahmen zu nennen gebot.

Successit vetus his comoedia, non sine multa
Laude: sed in vitium libertas excidit & vim
Dignam lege regi. Lex est accepta, chorusque
Turpiter obticuit, sublato iure nocendi.

Da nun dergestalt die mittlere Comödie der Griechen
aufhörete: so gieng die neue an, darinn sich Menander vor
andern hervor gethan. Dieser fieng nunmehro an, rechte
Fabeln zu erdencken, die sich auf die comische Schau-Büh-
ne schickten. Er gab denenselben weder von lebendigen Leu-

ten
Von Comoͤdien oder Luſtſpielen.
Carmine qui tragico vilem certauit ob hircum
Mox etiam agreſtes Satyros nudauit; & aſper
Incolumi grauitate jocum tentauit; eo quod
Illecebris erat, & grata nouitate morandus
Spectator, functusque ſacris, & potus & exlex.

Hier finden wir alles beyſammen, den Urſprung, den Jnhalt,
auch die Abſicht der aͤlteſten Comoͤdien. Aus den tragiſchen
Liedern ſind ſie entſtanden, und zwar bey Gelegenheit der
Feſt-Tage. Jhr Jnhalt iſt ein ſcharfer oder beiſſender
Schertz geweſen, den ſie von lauter baͤuriſchen Satyren, das
iſt halbnackten Bauren abſingen oder ſpielen ließen. Und
die Abſicht war, dem Volcke nach vollbrachtem Gottes-Dien-
ſte und vollendetem Schmauſe durch eine neue Luſtbarkeit die
Zeit zu vertreiben. Dieſes war nun die alte Comoͤdie.

Sobald ſie nun von dem Crates ins Geſchicke gebracht
worden, fanden ſich bald Eupolis, Cratinus und Ariſtopha-
nes, die ihr ein gantz ander Anſehen gaben. Die vorige Heff-
tigkeit nackter Satiren wurde in eine laͤcherliche Vorſtellung
gewiſſer Perſonen verwandelt, die man ſich nicht ſcheuete mit
Nahmen zu nennen. So finden wir, daß die vornehmſten
Leute in Athen vor den Poeten nicht ſicher geweſen; ja ſelbſt
Socrates von ihnen oͤffentlich verſpottet worden: da ihn Ari-
ſtophanes in dem Stuͤcke, ſo er die Wolcken nennet; als einen
wunderlichen Natur-Forſcher und gottloſen Atheiſten vorge-
ſtellet. Sonderlich ſungen die Choͤre dieſer Comoͤdien nichts
als ehrenruͤhrige Schmaͤh-Lieder, dadurch die Unſchuldigſten
angegriffen wurden. Daher kam es denn, daß die Obrigkeit
dieſer Frechheit Einhalt that, und die Choͤre gantz abzuſchaf-
fen, auch keine Perſon mehr mit Nahmen zu nennen gebot.

Succeſſit vetus his comoedia, non ſine multa
Laude: ſed in vitium libertas excidit & vim
Dignam lege regi. Lex eſt accepta, chorusque
Turpiter obticuit, ſublato iure nocendi.

Da nun dergeſtalt die mittlere Comoͤdie der Griechen
aufhoͤrete: ſo gieng die neue an, darinn ſich Menander vor
andern hervor gethan. Dieſer fieng nunmehro an, rechte
Fabeln zu erdencken, die ſich auf die comiſche Schau-Buͤh-
ne ſchickten. Er gab denenſelben weder von lebendigen Leu-

ten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0615" n="587"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von Como&#x0364;dien oder Lu&#x017F;t&#x017F;pielen.</hi> </fw><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Carmine qui tragico vilem certauit ob hircum<lb/>
Mox etiam agre&#x017F;tes Satyros nudauit; &amp; a&#x017F;per<lb/>
Incolumi grauitate jocum tentauit; eo quod<lb/>
Illecebris erat, &amp; grata nouitate morandus<lb/>
Spectator, functusque &#x017F;acris, &amp; potus &amp; exlex.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Hier finden wir alles bey&#x017F;ammen, den Ur&#x017F;prung, den Jnhalt,<lb/>
auch die Ab&#x017F;icht der a&#x0364;lte&#x017F;ten Como&#x0364;dien. Aus den tragi&#x017F;chen<lb/>
Liedern &#x017F;ind &#x017F;ie ent&#x017F;tanden, und zwar bey Gelegenheit der<lb/>
Fe&#x017F;t-Tage. Jhr Jnhalt i&#x017F;t ein &#x017F;charfer oder bei&#x017F;&#x017F;ender<lb/>
Schertz gewe&#x017F;en, den &#x017F;ie von lauter ba&#x0364;uri&#x017F;chen Satyren, das<lb/>
i&#x017F;t halbnackten Bauren ab&#x017F;ingen oder &#x017F;pielen ließen. Und<lb/>
die Ab&#x017F;icht war, dem Volcke nach vollbrachtem Gottes-Dien-<lb/>
&#x017F;te und vollendetem Schmau&#x017F;e durch eine neue Lu&#x017F;tbarkeit die<lb/>
Zeit zu vertreiben. Die&#x017F;es war nun die alte Como&#x0364;die.</p><lb/>
          <p>Sobald &#x017F;ie nun von dem Crates ins Ge&#x017F;chicke gebracht<lb/>
worden, fanden &#x017F;ich bald Eupolis, Cratinus und Ari&#x017F;topha-<lb/>
nes, die ihr ein gantz ander An&#x017F;ehen gaben. Die vorige Heff-<lb/>
tigkeit nackter Satiren wurde in eine la&#x0364;cherliche Vor&#x017F;tellung<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;er Per&#x017F;onen verwandelt, die man &#x017F;ich nicht &#x017F;cheuete mit<lb/>
Nahmen zu nennen. So finden wir, daß die vornehm&#x017F;ten<lb/>
Leute in Athen vor den Poeten nicht &#x017F;icher gewe&#x017F;en; ja &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
Socrates von ihnen o&#x0364;ffentlich ver&#x017F;pottet worden: da ihn Ari-<lb/>
&#x017F;tophanes in dem Stu&#x0364;cke, &#x017F;o er die Wolcken nennet; als einen<lb/>
wunderlichen Natur-For&#x017F;cher und gottlo&#x017F;en Athei&#x017F;ten vorge-<lb/>
&#x017F;tellet. Sonderlich &#x017F;ungen die Cho&#x0364;re die&#x017F;er Como&#x0364;dien nichts<lb/>
als ehrenru&#x0364;hrige Schma&#x0364;h-Lieder, dadurch die Un&#x017F;chuldig&#x017F;ten<lb/>
angegriffen wurden. Daher kam es denn, daß die Obrigkeit<lb/>
die&#x017F;er Frechheit Einhalt that, und die Cho&#x0364;re gantz abzu&#x017F;chaf-<lb/>
fen, auch keine Per&#x017F;on mehr mit Nahmen zu nennen gebot.</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l> <hi rendition="#aq">Succe&#x017F;&#x017F;it vetus his comoedia, non &#x017F;ine multa</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Laude: &#x017F;ed in vitium libertas excidit &amp; vim</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Dignam lege regi. Lex e&#x017F;t accepta, chorusque</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Turpiter obticuit, &#x017F;ublato iure nocendi.</hi> </l>
          </lg><lb/>
          <p>Da nun derge&#x017F;talt die mittlere Como&#x0364;die der Griechen<lb/>
aufho&#x0364;rete: &#x017F;o gieng die neue an, darinn &#x017F;ich Menander vor<lb/>
andern hervor gethan. Die&#x017F;er fieng nunmehro an, rechte<lb/>
Fabeln zu erdencken, die &#x017F;ich auf die comi&#x017F;che Schau-Bu&#x0364;h-<lb/>
ne &#x017F;chickten. Er gab denen&#x017F;elben weder von lebendigen Leu-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[587/0615] Von Comoͤdien oder Luſtſpielen. Carmine qui tragico vilem certauit ob hircum Mox etiam agreſtes Satyros nudauit; & aſper Incolumi grauitate jocum tentauit; eo quod Illecebris erat, & grata nouitate morandus Spectator, functusque ſacris, & potus & exlex. Hier finden wir alles beyſammen, den Urſprung, den Jnhalt, auch die Abſicht der aͤlteſten Comoͤdien. Aus den tragiſchen Liedern ſind ſie entſtanden, und zwar bey Gelegenheit der Feſt-Tage. Jhr Jnhalt iſt ein ſcharfer oder beiſſender Schertz geweſen, den ſie von lauter baͤuriſchen Satyren, das iſt halbnackten Bauren abſingen oder ſpielen ließen. Und die Abſicht war, dem Volcke nach vollbrachtem Gottes-Dien- ſte und vollendetem Schmauſe durch eine neue Luſtbarkeit die Zeit zu vertreiben. Dieſes war nun die alte Comoͤdie. Sobald ſie nun von dem Crates ins Geſchicke gebracht worden, fanden ſich bald Eupolis, Cratinus und Ariſtopha- nes, die ihr ein gantz ander Anſehen gaben. Die vorige Heff- tigkeit nackter Satiren wurde in eine laͤcherliche Vorſtellung gewiſſer Perſonen verwandelt, die man ſich nicht ſcheuete mit Nahmen zu nennen. So finden wir, daß die vornehmſten Leute in Athen vor den Poeten nicht ſicher geweſen; ja ſelbſt Socrates von ihnen oͤffentlich verſpottet worden: da ihn Ari- ſtophanes in dem Stuͤcke, ſo er die Wolcken nennet; als einen wunderlichen Natur-Forſcher und gottloſen Atheiſten vorge- ſtellet. Sonderlich ſungen die Choͤre dieſer Comoͤdien nichts als ehrenruͤhrige Schmaͤh-Lieder, dadurch die Unſchuldigſten angegriffen wurden. Daher kam es denn, daß die Obrigkeit dieſer Frechheit Einhalt that, und die Choͤre gantz abzuſchaf- fen, auch keine Perſon mehr mit Nahmen zu nennen gebot. Succeſſit vetus his comoedia, non ſine multa Laude: ſed in vitium libertas excidit & vim Dignam lege regi. Lex eſt accepta, chorusque Turpiter obticuit, ſublato iure nocendi. Da nun dergeſtalt die mittlere Comoͤdie der Griechen aufhoͤrete: ſo gieng die neue an, darinn ſich Menander vor andern hervor gethan. Dieſer fieng nunmehro an, rechte Fabeln zu erdencken, die ſich auf die comiſche Schau-Buͤh- ne ſchickten. Er gab denenſelben weder von lebendigen Leu- ten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/615
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/615>, abgerufen am 24.11.2024.