Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils XI Capitel te, und selbige Tragödien nannte. Als aber die gescheute-sten Köpfe sich allmählich von dem niederträchtigen und un- flätigen Zeuge entferneten, und ernsthafftere Sachen in ihren Schau-Spielen aufführeten; so wurden sie in Städten be- liebt, ja die Obrigkeit selbst nahm die Comödianten in ihren Sold, und ließ auf öffentliche Kosten Schau-Plätze bauen, die nöthigen Sänger zum Chor unterhalten, und alles nöthi- ge Zubehör der Schau-Bühne anschaffen. Wenn nun ein Poet ein neues Stück fertig hatte, so gab man ihm das Chor, wie sie redeten: das ist, man kaufte es ihm ab, und ließ es von den Comödianten aufführen. Jndessen waren die Uber- bleibsel der alten unflätigen Tragödien noch auf den Dör- fern und Flecken im Schwange geblieben. Das gemeine Volck findet allezeit mehr Geschmack an Narren-Possen und garstigen Schimpf-Reden; als an ernsthafften Dingen. Den witzigen Stadt-Leuten schien diese Art der Belustigun- gen zu abgeschmackt; weil sie schon was edleres in der Tra- gödie gefunden hatten. Sie mögen also wohl diesen bäuri- schen Lustbarkeiten, zum Schimpfe den Nahmen der Comö- dien gegeben haben, als welcher von kome und ode herkommt, und also ein Dorf-Lied bedeutet. Allmählich aber wurden doch auch die Verfertiger dieser Stücke gewahr, daß die Tragödien-Schreiber ihre Spiele besser einrichteten. Sie ahmeten also denenselben mehr und mehr nach, bis ihre Schau-Bühnen endlich ein besser Geschicke bekamen. Doch weiß man ins besondre diejenigen oder denjenigen nicht zu nen- nen, die am ersten Hand ans Werck geleget haben. Aristoteles berichtet bloß, daß Epicharmus ein Sicilia- Car-
Des II Theils XI Capitel te, und ſelbige Tragoͤdien nannte. Als aber die geſcheute-ſten Koͤpfe ſich allmaͤhlich von dem niedertraͤchtigen und un- flaͤtigen Zeuge entferneten, und ernſthafftere Sachen in ihren Schau-Spielen auffuͤhreten; ſo wurden ſie in Staͤdten be- liebt, ja die Obrigkeit ſelbſt nahm die Comoͤdianten in ihren Sold, und ließ auf oͤffentliche Koſten Schau-Plaͤtze bauen, die noͤthigen Saͤnger zum Chor unterhalten, und alles noͤthi- ge Zubehoͤr der Schau-Buͤhne anſchaffen. Wenn nun ein Poet ein neues Stuͤck fertig hatte, ſo gab man ihm das Chor, wie ſie redeten: das iſt, man kaufte es ihm ab, und ließ es von den Comoͤdianten auffuͤhren. Jndeſſen waren die Uber- bleibſel der alten unflaͤtigen Tragoͤdien noch auf den Doͤr- fern und Flecken im Schwange geblieben. Das gemeine Volck findet allezeit mehr Geſchmack an Narren-Poſſen und garſtigen Schimpf-Reden; als an ernſthafften Dingen. Den witzigen Stadt-Leuten ſchien dieſe Art der Beluſtigun- gen zu abgeſchmackt; weil ſie ſchon was edleres in der Tra- goͤdie gefunden hatten. Sie moͤgen alſo wohl dieſen baͤuri- ſchen Luſtbarkeiten, zum Schimpfe den Nahmen der Comoͤ- dien gegeben haben, als welcher von κωμη und ωδη herkommt, und alſo ein Dorf-Lied bedeutet. Allmaͤhlich aber wurden doch auch die Verfertiger dieſer Stuͤcke gewahr, daß die Tragoͤdien-Schreiber ihre Spiele beſſer einrichteten. Sie ahmeten alſo denenſelben mehr und mehr nach, bis ihre Schau-Buͤhnen endlich ein beſſer Geſchicke bekamen. Doch weiß man ins beſondre diejenigen oder denjenigen nicht zu nen- nen, die am erſten Hand ans Werck geleget haben. Ariſtoteles berichtet bloß, daß Epicharmus ein Sicilia- Car-
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Des II Theils XI Capitel
te, und ſelbige Tragoͤdien nannte. Als aber die geſcheute-
ſten Koͤpfe ſich allmaͤhlich von dem niedertraͤchtigen und un-
flaͤtigen Zeuge entferneten, und ernſthafftere Sachen in ihren
Schau-Spielen auffuͤhreten; ſo wurden ſie in Staͤdten be-
liebt, ja die Obrigkeit ſelbſt nahm die Comoͤdianten in ihren
Sold, und ließ auf oͤffentliche Koſten Schau-Plaͤtze bauen,
die noͤthigen Saͤnger zum Chor unterhalten, und alles noͤthi-
ge Zubehoͤr der Schau-Buͤhne anſchaffen. Wenn nun ein
Poet ein neues Stuͤck fertig hatte, ſo gab man ihm das Chor,
wie ſie redeten: das iſt, man kaufte es ihm ab, und ließ es von
den Comoͤdianten auffuͤhren. Jndeſſen waren die Uber-
bleibſel der alten unflaͤtigen Tragoͤdien noch auf den Doͤr-
fern und Flecken im Schwange geblieben. Das gemeine
Volck findet allezeit mehr Geſchmack an Narren-Poſſen und
garſtigen Schimpf-Reden; als an ernſthafften Dingen.
Den witzigen Stadt-Leuten ſchien dieſe Art der Beluſtigun-
gen zu abgeſchmackt; weil ſie ſchon was edleres in der Tra-
goͤdie gefunden hatten. Sie moͤgen alſo wohl dieſen baͤuri-
ſchen Luſtbarkeiten, zum Schimpfe den Nahmen der Comoͤ-
dien gegeben haben, als welcher von κωμη und ωδη herkommt,
und alſo ein Dorf-Lied bedeutet. Allmaͤhlich aber wurden
doch auch die Verfertiger dieſer Stuͤcke gewahr, daß die
Tragoͤdien-Schreiber ihre Spiele beſſer einrichteten. Sie
ahmeten alſo denenſelben mehr und mehr nach, bis ihre
Schau-Buͤhnen endlich ein beſſer Geſchicke bekamen. Doch
weiß man ins beſondre diejenigen oder denjenigen nicht zu nen-
nen, die am erſten Hand ans Werck geleget haben.
Ariſtoteles berichtet bloß, daß Epicharmus ein Sicilia-
ner, der neuer als Thespis, aber aͤlter als Eſchylus geweſen,
zuerſt angefangen, ordentlichere Stuͤcke zu ſpielen, und eine
gewiſſe Haupt-Abſicht in ſeine Vorſtellungen zu bringen.
Jhm folgte bald ein Athenienſer Crates nach. Dieſer be-
freyete die angefangene Comoͤdie von der alten Grobheit der
Bauren, und ſauberte ſie von ihren vorigen Unflaͤtereyen:
und darauf fand ſie denn auch in der Stadt Beyfall. Dahin
gehoͤren die Verſe Horatii, die von dem Pratinas handeln
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Zitationshilfe: | Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/614>, abgerufen am 17.02.2025. |