Die beste allgemeine Regel, die man hier geben kan, ist die Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten, und dieselbe aufs genaueste nachzuahmen. Nun findet man aber, daß auch die fürnehmsten Standes-Personen, zwar ihrer Würde gemäß dencken und sprechen, so lange sie ruhi- ges Gemüthes sind. Sobald sie aber der Affect übermei- stert, vergessen sie ihres hohen Standes fast, und werden wie andre Menschen. Wenn wir nun einen wahrhafftig Trau- rigen sehen, dem vergeht die Lust wohl, scharfsinnige Klagen auszustudiren; er wird so kläglich und beweglich sprechen als ihm möglich ist: denn wo er selbst nicht weinet, so wird gewiß niemand zum Mitleiden bewogen werden:
Vt ridentibus arrident, ita flentibus adsunt Humani vultus. Si vis me flere, dolendum est Primum ipse tibi: tunc tua me infortunia laedent, Telephe vel Peleu. Male si mandata loqueris, Aut dormitabo aut ridebo.
Hier fragt sichs nun unter andern, ob sich in die Schreibart der Tragödien auch viel Gleichnisse schicken? Jch antworte, man darf nur auf die Natur sehen. Nun finde ich nicht, daß man im gemeinen Leben, wenn wir von ernstlichen und wich- tigen Dingen reden, lange Vergleichungen zu machen pfle- get. Wem das, wovon er zu reden hat, zu Herzen geht; der hält sich mit solchen Spielen des Witzes nicht auf: son- dern dringt gerade auf die Sachen selbst. Ein anders ist es mit einem Poeten in einem Heldengedichte. Dieser ist selbst in der Fabel nicht mit verwickelt die er erzehlt; sondern gleich- sam nur ein Zuschauer oder Herold derselben. Der kan sich also wohl die Zeit nehmen, Gleichnisse zu machen, und so weit- läuftig auszuführen als er will. Allein in der Tragödie kommt der Poet gar nicht zum Vorschein; sondern es reden lauter andre Leute, die mit an den Begebenheiten Theil ha- ben, und als ordentliche Menschen eingeführet werden müs- sen. Jch finde auch, daß Sophocles nicht über zwey oder drey Gleichnisse in seinem Oedipus angebracht; und zwar nur gantz kurtz, und gleichsam im Vorbeygehen. Hergegen Lohenstein und Seneca sind fast überall voll davon; wodurch
denn
Des II Theils X Capitel
Die beſte allgemeine Regel, die man hier geben kan, iſt die Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten, und dieſelbe aufs genaueſte nachzuahmen. Nun findet man aber, daß auch die fuͤrnehmſten Standes-Perſonen, zwar ihrer Wuͤrde gemaͤß dencken und ſprechen, ſo lange ſie ruhi- ges Gemuͤthes ſind. Sobald ſie aber der Affect uͤbermei- ſtert, vergeſſen ſie ihres hohen Standes faſt, und werden wie andre Menſchen. Wenn wir nun einen wahrhafftig Trau- rigen ſehen, dem vergeht die Luſt wohl, ſcharfſinnige Klagen auszuſtudiren; er wird ſo klaͤglich und beweglich ſprechen als ihm moͤglich iſt: denn wo er ſelbſt nicht weinet, ſo wird gewiß niemand zum Mitleiden bewogen werden:
Vt ridentibus arrident, ita flentibus adſunt Humani vultus. Si vis me flere, dolendum eſt Primum ipſe tibi: tunc tua me infortunia laedent, Telephe vel Peleu. Male ſi mandata loqueris, Aut dormitabo aut ridebo.
Hier fragt ſichs nun unter andern, ob ſich in die Schreibart der Tragoͤdien auch viel Gleichniſſe ſchicken? Jch antworte, man darf nur auf die Natur ſehen. Nun finde ich nicht, daß man im gemeinen Leben, wenn wir von ernſtlichen und wich- tigen Dingen reden, lange Vergleichungen zu machen pfle- get. Wem das, wovon er zu reden hat, zu Herzen geht; der haͤlt ſich mit ſolchen Spielen des Witzes nicht auf: ſon- dern dringt gerade auf die Sachen ſelbſt. Ein anders iſt es mit einem Poeten in einem Heldengedichte. Dieſer iſt ſelbſt in der Fabel nicht mit verwickelt die er erzehlt; ſondern gleich- ſam nur ein Zuſchauer oder Herold derſelben. Der kan ſich alſo wohl die Zeit nehmen, Gleichniſſe zu machen, und ſo weit- laͤuftig auszufuͤhren als er will. Allein in der Tragoͤdie kommt der Poet gar nicht zum Vorſchein; ſondern es reden lauter andre Leute, die mit an den Begebenheiten Theil ha- ben, und als ordentliche Menſchen eingefuͤhret werden muͤſ- ſen. Jch finde auch, daß Sophocles nicht uͤber zwey oder drey Gleichniſſe in ſeinem Oedipus angebracht; und zwar nur gantz kurtz, und gleichſam im Vorbeygehen. Hergegen Lohenſtein und Seneca ſind faſt uͤberall voll davon; wodurch
denn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0608"n="580"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Des <hirendition="#aq">II</hi> Theils <hirendition="#aq">X</hi> Capitel</hi></fw><lb/><p>Die beſte allgemeine Regel, die man hier geben kan, iſt die<lb/>
Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten,<lb/>
und dieſelbe aufs genaueſte nachzuahmen. Nun findet man<lb/>
aber, daß auch die fuͤrnehmſten Standes-Perſonen, zwar<lb/>
ihrer Wuͤrde gemaͤß dencken und ſprechen, ſo lange ſie ruhi-<lb/>
ges Gemuͤthes ſind. Sobald ſie aber der Affect uͤbermei-<lb/>ſtert, vergeſſen ſie ihres hohen Standes faſt, und werden wie<lb/>
andre Menſchen. Wenn wir nun einen wahrhafftig Trau-<lb/>
rigen ſehen, dem vergeht die Luſt wohl, ſcharfſinnige Klagen<lb/>
auszuſtudiren; er wird ſo klaͤglich und beweglich ſprechen als<lb/>
ihm moͤglich iſt: denn wo er ſelbſt nicht weinet, ſo wird gewiß<lb/>
niemand zum Mitleiden bewogen werden:</p><lb/><cit><quote><hirendition="#aq">Vt ridentibus arrident, ita flentibus adſunt<lb/>
Humani vultus. Si vis me flere, dolendum eſt<lb/>
Primum ipſe tibi: tunc tua me infortunia laedent,<lb/>
Telephe vel Peleu. Male ſi mandata loqueris,<lb/>
Aut dormitabo aut ridebo.</hi></quote></cit><lb/><p>Hier fragt ſichs nun unter andern, ob ſich in die Schreibart<lb/>
der Tragoͤdien auch viel Gleichniſſe ſchicken? Jch antworte,<lb/>
man darf nur auf die Natur ſehen. Nun finde ich nicht, daß<lb/>
man im gemeinen Leben, wenn wir von ernſtlichen und wich-<lb/>
tigen Dingen reden, lange Vergleichungen zu machen pfle-<lb/>
get. Wem das, wovon er zu reden hat, zu Herzen geht;<lb/>
der haͤlt ſich mit ſolchen Spielen des Witzes nicht auf: ſon-<lb/>
dern dringt gerade auf die Sachen ſelbſt. Ein anders iſt es<lb/>
mit einem Poeten in einem Heldengedichte. Dieſer iſt ſelbſt<lb/>
in der Fabel nicht mit verwickelt die er erzehlt; ſondern gleich-<lb/>ſam nur ein Zuſchauer oder Herold derſelben. Der kan ſich<lb/>
alſo wohl die Zeit nehmen, Gleichniſſe zu machen, und ſo weit-<lb/>
laͤuftig auszufuͤhren als er will. Allein in der Tragoͤdie<lb/>
kommt der Poet gar nicht zum Vorſchein; ſondern es reden<lb/>
lauter andre Leute, die mit an den Begebenheiten Theil ha-<lb/>
ben, und als ordentliche Menſchen eingefuͤhret werden muͤſ-<lb/>ſen. Jch finde auch, daß Sophocles nicht uͤber zwey oder<lb/>
drey Gleichniſſe in ſeinem Oedipus angebracht; und zwar<lb/>
nur gantz kurtz, und gleichſam im Vorbeygehen. Hergegen<lb/>
Lohenſtein und Seneca ſind faſt uͤberall voll davon; wodurch<lb/><fwplace="bottom"type="catch">denn</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[580/0608]
Des II Theils X Capitel
Die beſte allgemeine Regel, die man hier geben kan, iſt die
Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten,
und dieſelbe aufs genaueſte nachzuahmen. Nun findet man
aber, daß auch die fuͤrnehmſten Standes-Perſonen, zwar
ihrer Wuͤrde gemaͤß dencken und ſprechen, ſo lange ſie ruhi-
ges Gemuͤthes ſind. Sobald ſie aber der Affect uͤbermei-
ſtert, vergeſſen ſie ihres hohen Standes faſt, und werden wie
andre Menſchen. Wenn wir nun einen wahrhafftig Trau-
rigen ſehen, dem vergeht die Luſt wohl, ſcharfſinnige Klagen
auszuſtudiren; er wird ſo klaͤglich und beweglich ſprechen als
ihm moͤglich iſt: denn wo er ſelbſt nicht weinet, ſo wird gewiß
niemand zum Mitleiden bewogen werden:
Vt ridentibus arrident, ita flentibus adſunt
Humani vultus. Si vis me flere, dolendum eſt
Primum ipſe tibi: tunc tua me infortunia laedent,
Telephe vel Peleu. Male ſi mandata loqueris,
Aut dormitabo aut ridebo.
Hier fragt ſichs nun unter andern, ob ſich in die Schreibart
der Tragoͤdien auch viel Gleichniſſe ſchicken? Jch antworte,
man darf nur auf die Natur ſehen. Nun finde ich nicht, daß
man im gemeinen Leben, wenn wir von ernſtlichen und wich-
tigen Dingen reden, lange Vergleichungen zu machen pfle-
get. Wem das, wovon er zu reden hat, zu Herzen geht;
der haͤlt ſich mit ſolchen Spielen des Witzes nicht auf: ſon-
dern dringt gerade auf die Sachen ſelbſt. Ein anders iſt es
mit einem Poeten in einem Heldengedichte. Dieſer iſt ſelbſt
in der Fabel nicht mit verwickelt die er erzehlt; ſondern gleich-
ſam nur ein Zuſchauer oder Herold derſelben. Der kan ſich
alſo wohl die Zeit nehmen, Gleichniſſe zu machen, und ſo weit-
laͤuftig auszufuͤhren als er will. Allein in der Tragoͤdie
kommt der Poet gar nicht zum Vorſchein; ſondern es reden
lauter andre Leute, die mit an den Begebenheiten Theil ha-
ben, und als ordentliche Menſchen eingefuͤhret werden muͤſ-
ſen. Jch finde auch, daß Sophocles nicht uͤber zwey oder
drey Gleichniſſe in ſeinem Oedipus angebracht; und zwar
nur gantz kurtz, und gleichſam im Vorbeygehen. Hergegen
Lohenſtein und Seneca ſind faſt uͤberall voll davon; wodurch
denn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/608>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.