diesen Nahmen. Die guten Poeten nun, so ihre Einbil- dungs-Krafft durch die Vernunft in den Schrancken zu hal- ten, und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahr- scheinlichkeit zu mäßigen gewust, sind auch bey einer vernünf- tigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die schwachen Geister aber, die ihrer Phantasie folgen, musten wohin sie wollte; verstiegen sich gar zu hoch, so daß Horatz sie beschul- diget, sie hätten bisweilen solche Rätzel, als die Delphische Priesterin gemacht:
Et tulit eloquium insolitum facundia praeceps, - - - - - & diuina futuri Sortilegis non discrepuit sententia Delphis.
Ja er verbietet gleich darauf ausdrücklich, daß man die tragi- schen Personen weder zu niedrig, noch zu hochtrabend solle re- den lassen:
Ne, quicunque Deus, quicunque adhibebitur heros, Migret in obscuras humili sermone tabernas: Aut, dum vitat humum, nubes & inania captet.
Jn dieser falschen Hoheit ist nun bey den Lateinern Seneca in seinen Tragödien; und bey uns Lohenstein gantz unerträg- lich. Alle ihre Personen, die sie aufführen, reden lauter Phöbus: wie bereits in dem allgemeinen Capitel von der poe- tischen Schreibart angemercket worden. Unser Andreas Gryphius ist doch weit vernünftiger in diesem Stücke. Jch mag die Weitläuftigkeit zu meiden, keine Exempel von beyden anführen: Man darf aber nur gleich des erstern Agrippina, mit Carl Stuarten von diesem; oder auch die Sophonisbe mit dem Leo Armenius zusammen halten, so wird man den Unterscheid gleich mercken. Sonderlich drucken die Lohen- steinischen Personen niemahls den Affect recht natürlich aus: sondern da sie im Schmertze aufhören sollten auf Steltzen zu gehen; so bleiben sie unverändert bey ihren scharfsinnigen Sprüchen und künstlichen Spitzfindigkeiten. Das Erste hat uns Horatz ausdrücklich gelehret:
Et tragicus plerumque dolet sermone pedestri Telephus & Peleus: cum pauper & exsul vterque Proiicit ampullas & sesquipedalia verba. Si curat cor spectantis tetigisse querela.
Die
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Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
dieſen Nahmen. Die guten Poeten nun, ſo ihre Einbil- dungs-Krafft durch die Vernunft in den Schrancken zu hal- ten, und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahr- ſcheinlichkeit zu maͤßigen gewuſt, ſind auch bey einer vernuͤnf- tigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die ſchwachen Geiſter aber, die ihrer Phantaſie folgen, muſten wohin ſie wollte; verſtiegen ſich gar zu hoch, ſo daß Horatz ſie beſchul- diget, ſie haͤtten bisweilen ſolche Raͤtzel, als die Delphiſche Prieſterin gemacht:
Et tulit eloquium inſolitum facundia praeceps, ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ & diuina futuri Sortilegis non diſcrepuit ſententia Delphis.
Ja er verbietet gleich darauf ausdruͤcklich, daß man die tragi- ſchen Perſonen weder zu niedrig, noch zu hochtrabend ſolle re- den laſſen:
Ne, quicunque Deus, quicunque adhibebitur heros, Migret in obſcuras humili ſermone tabernas: Aut, dum vitat humum, nubes & inania captet.
Jn dieſer falſchen Hoheit iſt nun bey den Lateinern Seneca in ſeinen Tragoͤdien; und bey uns Lohenſtein gantz unertraͤg- lich. Alle ihre Perſonen, die ſie auffuͤhren, reden lauter Phoͤbus: wie bereits in dem allgemeinen Capitel von der poe- tiſchen Schreibart angemercket worden. Unſer Andreas Gryphius iſt doch weit vernuͤnftiger in dieſem Stuͤcke. Jch mag die Weitlaͤuftigkeit zu meiden, keine Exempel von beyden anfuͤhren: Man darf aber nur gleich des erſtern Agrippina, mit Carl Stuarten von dieſem; oder auch die Sophonisbe mit dem Leo Armenius zuſammen halten, ſo wird man den Unterſcheid gleich mercken. Sonderlich drucken die Lohen- ſteiniſchen Perſonen niemahls den Affect recht natuͤrlich aus: ſondern da ſie im Schmertze aufhoͤren ſollten auf Steltzen zu gehen; ſo bleiben ſie unveraͤndert bey ihren ſcharfſinnigen Spruͤchen und kuͤnſtlichen Spitzfindigkeiten. Das Erſte hat uns Horatz ausdruͤcklich gelehret:
Et tragicus plerumque dolet ſermone pedeſtri Telephus & Peleus: cum pauper & exſul vterque Proiicit ampullas & ſesquipedalia verba. Si curat cor ſpectantis tetigiſſe querela.
Die
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Von Tragoͤdien oder Trauerſpielen.
dieſen Nahmen. Die guten Poeten nun, ſo ihre Einbil-
dungs-Krafft durch die Vernunft in den Schrancken zu hal-
ten, und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahr-
ſcheinlichkeit zu maͤßigen gewuſt, ſind auch bey einer vernuͤnf-
tigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die ſchwachen
Geiſter aber, die ihrer Phantaſie folgen, muſten wohin ſie
wollte; verſtiegen ſich gar zu hoch, ſo daß Horatz ſie beſchul-
diget, ſie haͤtten bisweilen ſolche Raͤtzel, als die Delphiſche
Prieſterin gemacht:
Et tulit eloquium inſolitum facundia praeceps,
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ & diuina futuri
Sortilegis non diſcrepuit ſententia Delphis.
Ja er verbietet gleich darauf ausdruͤcklich, daß man die tragi-
ſchen Perſonen weder zu niedrig, noch zu hochtrabend ſolle re-
den laſſen:
Ne, quicunque Deus, quicunque adhibebitur heros,
Migret in obſcuras humili ſermone tabernas:
Aut, dum vitat humum, nubes & inania captet.
Jn dieſer falſchen Hoheit iſt nun bey den Lateinern Seneca
in ſeinen Tragoͤdien; und bey uns Lohenſtein gantz unertraͤg-
lich. Alle ihre Perſonen, die ſie auffuͤhren, reden lauter
Phoͤbus: wie bereits in dem allgemeinen Capitel von der poe-
tiſchen Schreibart angemercket worden. Unſer Andreas
Gryphius iſt doch weit vernuͤnftiger in dieſem Stuͤcke. Jch
mag die Weitlaͤuftigkeit zu meiden, keine Exempel von beyden
anfuͤhren: Man darf aber nur gleich des erſtern Agrippina,
mit Carl Stuarten von dieſem; oder auch die Sophonisbe
mit dem Leo Armenius zuſammen halten, ſo wird man den
Unterſcheid gleich mercken. Sonderlich drucken die Lohen-
ſteiniſchen Perſonen niemahls den Affect recht natuͤrlich aus:
ſondern da ſie im Schmertze aufhoͤren ſollten auf Steltzen
zu gehen; ſo bleiben ſie unveraͤndert bey ihren ſcharfſinnigen
Spruͤchen und kuͤnſtlichen Spitzfindigkeiten. Das Erſte
hat uns Horatz ausdruͤcklich gelehret:
Et tragicus plerumque dolet ſermone pedeſtri
Telephus & Peleus: cum pauper & exſul vterque
Proiicit ampullas & ſesquipedalia verba.
Si curat cor ſpectantis tetigiſſe querela.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/607>, abgerufen am 23.11.2024.
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