der Historie schon bekannt sind, genau bey eben dem Chara- ctere lassen müsse, den man von ihnen längst gewohnt ist. Das hat Corneille in seiner Sophonisbe gethan. Er be- obachtet genau, was Livins von ihrer Gemüthsbeschaffenheit erzehlet: Den Masinissa und Syphax läst er auch so, wie er sie fand: unser Lohenstein aber hat alles verkehrt, wie der ge- lehrte Herr Bodmer bereits angemercket hat. Ein anders ist es, wenn man gantz neue Personen dichtet. Die kan man machen wie man selber will, und wie die Fabel es erfordert. Nur folgende Regel Horatii ist nöthig zu beobachten:
Si quid inexpertum scenae committis, & audes Personam formare nouam; seruetur ad imum, Qualis ab incepto processerit, & sibi constet.
Ein wiedersprechender Character ist ein Ungeheuer, so in der Natur nicht leicht vorkommt: daher muß ein Geitziger gei- tzig; ein Stoltzer stoltz; ein hitziger hitzig; ein Verzagter verzagt seyn und bleiben: Es würde denn in der Fabel durch besondre Umstände wahrscheinlich gemacht, daß er sich ein we- nig geändert hätte. Denn eine gäntzliche Aenderung des Naturels oder Characters ist ohnedem in so kurtzer Zeit un- möglich.
Nichts ist von Characteren mehr übrig zu sagen, als daß nur die Hauptpersonen dergleichen haben müssen. Die Be- dienten derselben, so fast allezeit in fremdem Nahmen han- deln oder thun, dörfen keine besondre Gemüthsart haben: zum wenigsten haben sie selten Gelegenheit dieselbe blicken zu lassen. Doch ist es in solchen Fällen auch unverboten.
Jch komme auf den Ausdruck oder die Schreibart der Tragödien. Diese muß eben so beschaffen seyn als die Schreib- art in Heldengedichten, wenn der Poet daselbst andre redend einführet. Die Alten nennten diese Art des Ausdruckes Co- thurnum; von den hohen Schuhen, die von vornehmen Standespersonen getragen wurden. Weil nun dergleichen in der Tragödie vorgestellet wurden, und es sich vor sie nicht anders schickte, als daß sie sich auf eine edlere Art als der ge- meine Pöbel ausdrücken musten; zumahl wenn die gewaltig- sten Affecten sie bestürmeten: So bekam ihre Sprache eben
die-
Des II Theils X Capitel
der Hiſtorie ſchon bekannt ſind, genau bey eben dem Chara- ctere laſſen muͤſſe, den man von ihnen laͤngſt gewohnt iſt. Das hat Corneille in ſeiner Sophonisbe gethan. Er be- obachtet genau, was Livins von ihrer Gemuͤthsbeſchaffenheit erzehlet: Den Maſiniſſa und Syphax laͤſt er auch ſo, wie er ſie fand: unſer Lohenſtein aber hat alles verkehrt, wie der ge- lehrte Herr Bodmer bereits angemercket hat. Ein anders iſt es, wenn man gantz neue Perſonen dichtet. Die kan man machen wie man ſelber will, und wie die Fabel es erfordert. Nur folgende Regel Horatii iſt noͤthig zu beobachten:
Si quid inexpertum ſcenae committis, & audes Perſonam formare nouam; ſeruetur ad imum, Qualis ab incepto proceſſerit, & ſibi conſtet.
Ein wiederſprechender Character iſt ein Ungeheuer, ſo in der Natur nicht leicht vorkommt: daher muß ein Geitziger gei- tzig; ein Stoltzer ſtoltz; ein hitziger hitzig; ein Verzagter verzagt ſeyn und bleiben: Es wuͤrde denn in der Fabel durch beſondre Umſtaͤnde wahrſcheinlich gemacht, daß er ſich ein we- nig geaͤndert haͤtte. Denn eine gaͤntzliche Aenderung des Naturels oder Characters iſt ohnedem in ſo kurtzer Zeit un- moͤglich.
Nichts iſt von Characteren mehr uͤbrig zu ſagen, als daß nur die Hauptperſonen dergleichen haben muͤſſen. Die Be- dienten derſelben, ſo faſt allezeit in fremdem Nahmen han- deln oder thun, doͤrfen keine beſondre Gemuͤthsart haben: zum wenigſten haben ſie ſelten Gelegenheit dieſelbe blicken zu laſſen. Doch iſt es in ſolchen Faͤllen auch unverboten.
Jch komme auf den Ausdruck oder die Schreibart der Tragoͤdien. Dieſe muß eben ſo beſchaffen ſeyn als die Schreib- art in Heldengedichten, wenn der Poet daſelbſt andre redend einfuͤhret. Die Alten nennten dieſe Art des Ausdruckes Co- thurnum; von den hohen Schuhen, die von vornehmen Standesperſonen getragen wurden. Weil nun dergleichen in der Tragoͤdie vorgeſtellet wurden, und es ſich vor ſie nicht anders ſchickte, als daß ſie ſich auf eine edlere Art als der ge- meine Poͤbel ausdruͤcken muſten; zumahl wenn die gewaltig- ſten Affecten ſie beſtuͤrmeten: So bekam ihre Sprache eben
die-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0606"n="578"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Des <hirendition="#aq">II</hi> Theils <hirendition="#aq">X</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
der Hiſtorie ſchon bekannt ſind, genau bey eben dem Chara-<lb/>
ctere laſſen muͤſſe, den man von ihnen laͤngſt gewohnt iſt.<lb/>
Das hat Corneille in ſeiner Sophonisbe gethan. Er be-<lb/>
obachtet genau, was Livins von ihrer Gemuͤthsbeſchaffenheit<lb/>
erzehlet: Den Maſiniſſa und Syphax laͤſt er auch ſo, wie er<lb/>ſie fand: unſer Lohenſtein aber hat alles verkehrt, wie der ge-<lb/>
lehrte Herr Bodmer bereits angemercket hat. Ein anders<lb/>
iſt es, wenn man gantz neue Perſonen dichtet. Die kan man<lb/>
machen wie man ſelber will, und wie die Fabel es erfordert.<lb/>
Nur folgende Regel Horatii iſt noͤthig zu beobachten:</p><lb/><cit><quote><hirendition="#aq">Si quid inexpertum ſcenae committis, & audes<lb/>
Perſonam formare nouam; ſeruetur ad imum,<lb/>
Qualis ab incepto proceſſerit, &ſibi conſtet.</hi></quote></cit><lb/><p>Ein wiederſprechender Character iſt ein Ungeheuer, ſo in der<lb/>
Natur nicht leicht vorkommt: daher muß ein Geitziger gei-<lb/>
tzig; ein Stoltzer ſtoltz; ein hitziger hitzig; ein Verzagter<lb/>
verzagt ſeyn und bleiben: Es wuͤrde denn in der Fabel durch<lb/>
beſondre Umſtaͤnde wahrſcheinlich gemacht, daß er ſich ein we-<lb/>
nig geaͤndert haͤtte. Denn eine gaͤntzliche Aenderung des<lb/>
Naturels oder Characters iſt ohnedem in ſo kurtzer Zeit un-<lb/>
moͤglich.</p><lb/><p>Nichts iſt von Characteren mehr uͤbrig zu ſagen, als daß<lb/>
nur die Hauptperſonen dergleichen haben muͤſſen. Die Be-<lb/>
dienten derſelben, ſo faſt allezeit in fremdem Nahmen han-<lb/>
deln oder thun, doͤrfen keine beſondre Gemuͤthsart haben:<lb/>
zum wenigſten haben ſie ſelten Gelegenheit dieſelbe blicken zu<lb/>
laſſen. Doch iſt es in ſolchen Faͤllen auch unverboten.</p><lb/><p>Jch komme auf den Ausdruck oder die Schreibart der<lb/>
Tragoͤdien. Dieſe muß eben ſo beſchaffen ſeyn als die Schreib-<lb/>
art in Heldengedichten, wenn der Poet daſelbſt andre redend<lb/>
einfuͤhret. Die Alten nennten dieſe Art des Ausdruckes Co-<lb/>
thurnum; von den hohen Schuhen, die von vornehmen<lb/>
Standesperſonen getragen wurden. Weil nun dergleichen<lb/>
in der Tragoͤdie vorgeſtellet wurden, und es ſich vor ſie nicht<lb/>
anders ſchickte, als daß ſie ſich auf eine edlere Art als der ge-<lb/>
meine Poͤbel ausdruͤcken muſten; zumahl wenn die gewaltig-<lb/>ſten Affecten ſie beſtuͤrmeten: So bekam ihre Sprache eben<lb/><fwplace="bottom"type="catch">die-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[578/0606]
Des II Theils X Capitel
der Hiſtorie ſchon bekannt ſind, genau bey eben dem Chara-
ctere laſſen muͤſſe, den man von ihnen laͤngſt gewohnt iſt.
Das hat Corneille in ſeiner Sophonisbe gethan. Er be-
obachtet genau, was Livins von ihrer Gemuͤthsbeſchaffenheit
erzehlet: Den Maſiniſſa und Syphax laͤſt er auch ſo, wie er
ſie fand: unſer Lohenſtein aber hat alles verkehrt, wie der ge-
lehrte Herr Bodmer bereits angemercket hat. Ein anders
iſt es, wenn man gantz neue Perſonen dichtet. Die kan man
machen wie man ſelber will, und wie die Fabel es erfordert.
Nur folgende Regel Horatii iſt noͤthig zu beobachten:
Si quid inexpertum ſcenae committis, & audes
Perſonam formare nouam; ſeruetur ad imum,
Qualis ab incepto proceſſerit, & ſibi conſtet.
Ein wiederſprechender Character iſt ein Ungeheuer, ſo in der
Natur nicht leicht vorkommt: daher muß ein Geitziger gei-
tzig; ein Stoltzer ſtoltz; ein hitziger hitzig; ein Verzagter
verzagt ſeyn und bleiben: Es wuͤrde denn in der Fabel durch
beſondre Umſtaͤnde wahrſcheinlich gemacht, daß er ſich ein we-
nig geaͤndert haͤtte. Denn eine gaͤntzliche Aenderung des
Naturels oder Characters iſt ohnedem in ſo kurtzer Zeit un-
moͤglich.
Nichts iſt von Characteren mehr uͤbrig zu ſagen, als daß
nur die Hauptperſonen dergleichen haben muͤſſen. Die Be-
dienten derſelben, ſo faſt allezeit in fremdem Nahmen han-
deln oder thun, doͤrfen keine beſondre Gemuͤthsart haben:
zum wenigſten haben ſie ſelten Gelegenheit dieſelbe blicken zu
laſſen. Doch iſt es in ſolchen Faͤllen auch unverboten.
Jch komme auf den Ausdruck oder die Schreibart der
Tragoͤdien. Dieſe muß eben ſo beſchaffen ſeyn als die Schreib-
art in Heldengedichten, wenn der Poet daſelbſt andre redend
einfuͤhret. Die Alten nennten dieſe Art des Ausdruckes Co-
thurnum; von den hohen Schuhen, die von vornehmen
Standesperſonen getragen wurden. Weil nun dergleichen
in der Tragoͤdie vorgeſtellet wurden, und es ſich vor ſie nicht
anders ſchickte, als daß ſie ſich auf eine edlere Art als der ge-
meine Poͤbel ausdruͤcken muſten; zumahl wenn die gewaltig-
ſten Affecten ſie beſtuͤrmeten: So bekam ihre Sprache eben
die-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/606>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.