gar auf der See seyn. Das sind lauter Fehler wieder die Wahrscheinligkeit; Eine Fabel aber, die nicht wahr- scheinlich ist, taugt nichts: weil dieses ihre vornehmste Ei- genschafft ist.
Es sind aber die Fabeln der Trauer-Spiele ebenfalls entweder einfache oder schlechte; oder verworrene, die einen Glücks-Wechsel und eine Entdeckung unbekannter Personen haben. Jn beyden aber hat ein Knoten oder die so genannte Intrigue statt, die sich im Anfange des Schau-Spieles an- fängt in einander zu schlingen, und allmählig immer mehr und mehr verwirret, bis die letzte Handlung, oder wo möglich, der letzte Auftritt alles auf einmahl auflöset. Dieser Knoten ist in der Fabel nöthig, die Aufmercksamkeit der Zuschauer zu erwecken, und sie auf den Ausgang solcher verwirrten Hän- del begierig zu machen. Jm Titus des Racine ist ein Exem- pel von der ersten Classe zu sehen; wo alles ohne eine andre Verwirrung der Umstände, bloß deswegen einen Knoten schürtzet, weil die Königin Berenice nicht weiß, was sie hoffen oder fürchten soll; der Käyser selbst aber bey sich an- stehet, ob er seiner Liebe, oder dem Willen des Römischen Volckes gehorchen solle. Dieses ist also eine einfache oder schlechte Fabel, worinn kein Glücks-Wechsel, (Peripetie) keine Entdeckung verborgener Personen vorgeht. Denn beyde bleiben was sie sind, jene Königin von Palestina, dieser Römischer Käyser. Eben so ist der Cinna und Porus be- schaffen. Gantz anders ist es in der Electra des Sophocles. Hier kömmt der junge Printz Orestes in verstellter Kleidung nach Mycene; läst sich vor todt ausgeben, und bringt selbst den Aschen-Topf getragen, in dem, seinem eigenen Vorgeben nach, sein eigener Uberrest ist. Seine Mutter Clytemnestra, so sich darüber freuet, weil sie nur von ihrem Sohne die Ra- che, wegen seines, von ihr und ihrem neuen Gemahl Egysthus ermordeten Vaters Agamemnons, zu befürchten hatte; wird dergestalt hintergangen, und nachdem sich Orestes ihr entde- cket, ums Leben gebracht. Jhrem Egysthus gehts nicht bes- ser, und da also die glückseeligen Personen des Trauer-Spiels unglücklich werden; so wird der vorhin flüchtige Orestes
nebst
Des II Theils X Capitel
gar auf der See ſeyn. Das ſind lauter Fehler wieder die Wahrſcheinligkeit; Eine Fabel aber, die nicht wahr- ſcheinlich iſt, taugt nichts: weil dieſes ihre vornehmſte Ei- genſchafft iſt.
Es ſind aber die Fabeln der Trauer-Spiele ebenfalls entweder einfache oder ſchlechte; oder verworrene, die einen Gluͤcks-Wechſel und eine Entdeckung unbekannter Perſonen haben. Jn beyden aber hat ein Knoten oder die ſo genannte Intrigue ſtatt, die ſich im Anfange des Schau-Spieles an- faͤngt in einander zu ſchlingen, und allmaͤhlig immer mehr und mehr verwirret, bis die letzte Handlung, oder wo moͤglich, der letzte Auftritt alles auf einmahl aufloͤſet. Dieſer Knoten iſt in der Fabel noͤthig, die Aufmerckſamkeit der Zuſchauer zu erwecken, und ſie auf den Ausgang ſolcher verwirrten Haͤn- del begierig zu machen. Jm Titus des Racine iſt ein Exem- pel von der erſten Claſſe zu ſehen; wo alles ohne eine andre Verwirrung der Umſtaͤnde, bloß deswegen einen Knoten ſchuͤrtzet, weil die Koͤnigin Berenice nicht weiß, was ſie hoffen oder fuͤrchten ſoll; der Kaͤyſer ſelbſt aber bey ſich an- ſtehet, ob er ſeiner Liebe, oder dem Willen des Roͤmiſchen Volckes gehorchen ſolle. Dieſes iſt alſo eine einfache oder ſchlechte Fabel, worinn kein Gluͤcks-Wechſel, (Peripetie) keine Entdeckung verborgener Perſonen vorgeht. Denn beyde bleiben was ſie ſind, jene Koͤnigin von Paleſtina, dieſer Roͤmiſcher Kaͤyſer. Eben ſo iſt der Cinna und Porus be- ſchaffen. Gantz anders iſt es in der Electra des Sophocles. Hier koͤmmt der junge Printz Oreſtes in verſtellter Kleidung nach Mycene; laͤſt ſich vor todt ausgeben, und bringt ſelbſt den Aſchen-Topf getragen, in dem, ſeinem eigenen Vorgeben nach, ſein eigener Uberreſt iſt. Seine Mutter Clytemneſtra, ſo ſich daruͤber freuet, weil ſie nur von ihrem Sohne die Ra- che, wegen ſeines, von ihr und ihrem neuen Gemahl Egyſthus ermordeten Vaters Agamemnons, zu befuͤrchten hatte; wird dergeſtalt hintergangen, und nachdem ſich Oreſtes ihr entde- cket, ums Leben gebracht. Jhrem Egyſthus gehts nicht beſ- ſer, und da alſo die gluͤckſeeligen Perſonen des Trauer-Spiels ungluͤcklich werden; ſo wird der vorhin fluͤchtige Oreſtes
nebſt
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Des II Theils X Capitel
gar auf der See ſeyn. Das ſind lauter Fehler wieder
die Wahrſcheinligkeit; Eine Fabel aber, die nicht wahr-
ſcheinlich iſt, taugt nichts: weil dieſes ihre vornehmſte Ei-
genſchafft iſt.
Es ſind aber die Fabeln der Trauer-Spiele ebenfalls
entweder einfache oder ſchlechte; oder verworrene, die einen
Gluͤcks-Wechſel und eine Entdeckung unbekannter Perſonen
haben. Jn beyden aber hat ein Knoten oder die ſo genannte
Intrigue ſtatt, die ſich im Anfange des Schau-Spieles an-
faͤngt in einander zu ſchlingen, und allmaͤhlig immer mehr und
mehr verwirret, bis die letzte Handlung, oder wo moͤglich, der
letzte Auftritt alles auf einmahl aufloͤſet. Dieſer Knoten iſt
in der Fabel noͤthig, die Aufmerckſamkeit der Zuſchauer zu
erwecken, und ſie auf den Ausgang ſolcher verwirrten Haͤn-
del begierig zu machen. Jm Titus des Racine iſt ein Exem-
pel von der erſten Claſſe zu ſehen; wo alles ohne eine andre
Verwirrung der Umſtaͤnde, bloß deswegen einen Knoten
ſchuͤrtzet, weil die Koͤnigin Berenice nicht weiß, was ſie
hoffen oder fuͤrchten ſoll; der Kaͤyſer ſelbſt aber bey ſich an-
ſtehet, ob er ſeiner Liebe, oder dem Willen des Roͤmiſchen
Volckes gehorchen ſolle. Dieſes iſt alſo eine einfache oder
ſchlechte Fabel, worinn kein Gluͤcks-Wechſel, (Peripetie)
keine Entdeckung verborgener Perſonen vorgeht. Denn
beyde bleiben was ſie ſind, jene Koͤnigin von Paleſtina, dieſer
Roͤmiſcher Kaͤyſer. Eben ſo iſt der Cinna und Porus be-
ſchaffen. Gantz anders iſt es in der Electra des Sophocles.
Hier koͤmmt der junge Printz Oreſtes in verſtellter Kleidung
nach Mycene; laͤſt ſich vor todt ausgeben, und bringt ſelbſt
den Aſchen-Topf getragen, in dem, ſeinem eigenen Vorgeben
nach, ſein eigener Uberreſt iſt. Seine Mutter Clytemneſtra,
ſo ſich daruͤber freuet, weil ſie nur von ihrem Sohne die Ra-
che, wegen ſeines, von ihr und ihrem neuen Gemahl Egyſthus
ermordeten Vaters Agamemnons, zu befuͤrchten hatte; wird
dergeſtalt hintergangen, und nachdem ſich Oreſtes ihr entde-
cket, ums Leben gebracht. Jhrem Egyſthus gehts nicht beſ-
ſer, und da alſo die gluͤckſeeligen Perſonen des Trauer-Spiels
ungluͤcklich werden; ſo wird der vorhin fluͤchtige Oreſtes
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/604>, abgerufen am 23.11.2024.
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