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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils X Capitel
sie wird nur gelesen: Aber die Fabel eines Schau-Spieles,
die mit lebendigen Personen in etlichen Stunden lebendig vor-
gestellet wird, kan nur einen Umlauf der Sonnen, wie Ari-
stoteles spricht; das ist einen Tag dauren. Denn was hat
es vor eine Wahrscheinlichkeit, wenn man in dem ersten
Auftritte den Helden in der Wiege, weiter hin als einen
Knaben, hernach als einen Jüngling, Mann, Greis, und zu-
letzt gar im Sarge vorstellen wollte: Wie Cervantes solche
thörichte Schau-Spiele an seinen Spanischen Poeten im
Don Quipote ausgelachet hat. Oder wie ist es wahrschein-
lich, daß man es auf der Schau-Bühne etliche mahl Abend
werden sieht; und doch selbst ohne zu essen oder zu trincken
oder zu schlafen immer auf einer Stelle sitzen bleibt? Die be-
sten Fabeln sind also diejenigen, die nicht mehr Zeit nöthig ge-
habt, wircklich zu geschehen, als sie zur Vorstellung brau-
chen; das ist etwa drey oder vier Stunden: Und so sind die
meisten griechischen Tragödien. Kommt es hoch, so bedör-
fen sie sechs, acht, oder zum höchsten zehn Stunden zu ihrem
gantzen Verlauf: Und höher muß es ein Poet nicht treiben;
wenn er nicht wieder die Wahrscheinlichkeit handeln will. Es
müssen aber diese Stunden bey Tage, und nicht bey Nacht
seyn, weil diese zum Schlafen bestimmet ist; Es wäre denn,
daß die Handlung erst nach Mittage anfienge, und sich bis in
die späte Nacht verzöge; oder umgekehrt frühmorgends an-
gienge, und bis zu Mittage daurete. Der berühmte Cid des
Corneille ist in diesem Stücke wieder die Reguln, denn er
dauret eine gantze Nacht durch, nebst dem vorigen und fol-
genden Tage, und braucht wenigstens volle vier und zwantzig
Stunden: welches schon viel zu viel ist, und unerträglich
seyn würde, wenn das Stück nicht sonst viel andre Schön-
heiten in sich hätte; die den Zuschauern fast nicht Zeit lassen,
daran zu gedencken. Das ist nun eben die Kunst, die Fabel
so ins kurtze zu bringen, daß keine lange Zeit dazu gehöret; und
eben deßwegen ist auch bey uns Deutschen die Tragödie vom
Wallenstein, von der Banise, ingleichen von der Böhmischen
Libussa gantz falsch und unrichtig, weil sie zum Theil etliche
Monate, zum Theil aber viele Jahre zu ihrer Dauer erfor-

dern.

Des II Theils X Capitel
ſie wird nur geleſen: Aber die Fabel eines Schau-Spieles,
die mit lebendigen Perſonen in etlichen Stunden lebendig vor-
geſtellet wird, kan nur einen Umlauf der Sonnen, wie Ari-
ſtoteles ſpricht; das iſt einen Tag dauren. Denn was hat
es vor eine Wahrſcheinlichkeit, wenn man in dem erſten
Auftritte den Helden in der Wiege, weiter hin als einen
Knaben, hernach als einen Juͤngling, Mann, Greis, und zu-
letzt gar im Sarge vorſtellen wollte: Wie Cervantes ſolche
thoͤrichte Schau-Spiele an ſeinen Spaniſchen Poeten im
Don Quipote ausgelachet hat. Oder wie iſt es wahrſchein-
lich, daß man es auf der Schau-Buͤhne etliche mahl Abend
werden ſieht; und doch ſelbſt ohne zu eſſen oder zu trincken
oder zu ſchlafen immer auf einer Stelle ſitzen bleibt? Die be-
ſten Fabeln ſind alſo diejenigen, die nicht mehr Zeit noͤthig ge-
habt, wircklich zu geſchehen, als ſie zur Vorſtellung brau-
chen; das iſt etwa drey oder vier Stunden: Und ſo ſind die
meiſten griechiſchen Tragoͤdien. Kommt es hoch, ſo bedoͤr-
fen ſie ſechs, acht, oder zum hoͤchſten zehn Stunden zu ihrem
gantzen Verlauf: Und hoͤher muß es ein Poet nicht treiben;
wenn er nicht wieder die Wahrſcheinlichkeit handeln will. Es
muͤſſen aber dieſe Stunden bey Tage, und nicht bey Nacht
ſeyn, weil dieſe zum Schlafen beſtimmet iſt; Es waͤre denn,
daß die Handlung erſt nach Mittage anfienge, und ſich bis in
die ſpaͤte Nacht verzoͤge; oder umgekehrt fruͤhmorgends an-
gienge, und bis zu Mittage daurete. Der beruͤhmte Cid des
Corneille iſt in dieſem Stuͤcke wieder die Reguln, denn er
dauret eine gantze Nacht durch, nebſt dem vorigen und fol-
genden Tage, und braucht wenigſtens volle vier und zwantzig
Stunden: welches ſchon viel zu viel iſt, und unertraͤglich
ſeyn wuͤrde, wenn das Stuͤck nicht ſonſt viel andre Schoͤn-
heiten in ſich haͤtte; die den Zuſchauern faſt nicht Zeit laſſen,
daran zu gedencken. Das iſt nun eben die Kunſt, die Fabel
ſo ins kurtze zu bringen, daß keine lange Zeit dazu gehoͤret; und
eben deßwegen iſt auch bey uns Deutſchen die Tragoͤdie vom
Wallenſtein, von der Baniſe, ingleichen von der Boͤhmiſchen
Libuſſa gantz falſch und unrichtig, weil ſie zum Theil etliche
Monate, zum Theil aber viele Jahre zu ihrer Dauer erfor-

dern.
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[574/0602] Des II Theils X Capitel ſie wird nur geleſen: Aber die Fabel eines Schau-Spieles, die mit lebendigen Perſonen in etlichen Stunden lebendig vor- geſtellet wird, kan nur einen Umlauf der Sonnen, wie Ari- ſtoteles ſpricht; das iſt einen Tag dauren. Denn was hat es vor eine Wahrſcheinlichkeit, wenn man in dem erſten Auftritte den Helden in der Wiege, weiter hin als einen Knaben, hernach als einen Juͤngling, Mann, Greis, und zu- letzt gar im Sarge vorſtellen wollte: Wie Cervantes ſolche thoͤrichte Schau-Spiele an ſeinen Spaniſchen Poeten im Don Quipote ausgelachet hat. Oder wie iſt es wahrſchein- lich, daß man es auf der Schau-Buͤhne etliche mahl Abend werden ſieht; und doch ſelbſt ohne zu eſſen oder zu trincken oder zu ſchlafen immer auf einer Stelle ſitzen bleibt? Die be- ſten Fabeln ſind alſo diejenigen, die nicht mehr Zeit noͤthig ge- habt, wircklich zu geſchehen, als ſie zur Vorſtellung brau- chen; das iſt etwa drey oder vier Stunden: Und ſo ſind die meiſten griechiſchen Tragoͤdien. Kommt es hoch, ſo bedoͤr- fen ſie ſechs, acht, oder zum hoͤchſten zehn Stunden zu ihrem gantzen Verlauf: Und hoͤher muß es ein Poet nicht treiben; wenn er nicht wieder die Wahrſcheinlichkeit handeln will. Es muͤſſen aber dieſe Stunden bey Tage, und nicht bey Nacht ſeyn, weil dieſe zum Schlafen beſtimmet iſt; Es waͤre denn, daß die Handlung erſt nach Mittage anfienge, und ſich bis in die ſpaͤte Nacht verzoͤge; oder umgekehrt fruͤhmorgends an- gienge, und bis zu Mittage daurete. Der beruͤhmte Cid des Corneille iſt in dieſem Stuͤcke wieder die Reguln, denn er dauret eine gantze Nacht durch, nebſt dem vorigen und fol- genden Tage, und braucht wenigſtens volle vier und zwantzig Stunden: welches ſchon viel zu viel iſt, und unertraͤglich ſeyn wuͤrde, wenn das Stuͤck nicht ſonſt viel andre Schoͤn- heiten in ſich haͤtte; die den Zuſchauern faſt nicht Zeit laſſen, daran zu gedencken. Das iſt nun eben die Kunſt, die Fabel ſo ins kurtze zu bringen, daß keine lange Zeit dazu gehoͤret; und eben deßwegen iſt auch bey uns Deutſchen die Tragoͤdie vom Wallenſtein, von der Baniſe, ingleichen von der Boͤhmiſchen Libuſſa gantz falſch und unrichtig, weil ſie zum Theil etliche Monate, zum Theil aber viele Jahre zu ihrer Dauer erfor- dern.

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/602>, abgerufen am 23.11.2024.