zwischen dem ersten und letzten Liede gespielt und gesungen wurde, nennte man Episodium; was vor dem Singen vor- hergieng, den Eingang oder die Vorrede, und was darnach zuletzt folgte, den Ausgang oder Beschluß. s. Arist. Poet. c. 12. so daß auf die Art eine Tragödie in drey sehr ungleiche Theile unterschieden wurde.
Was den andern Theil der Tragödie, der nicht gesungen ward, anlanget, so bestund derselbe aus den Unterredungen der auftretenden Personen; die eine gewisse Fabel vorstelle- ten. Ungeachtet nun diese Fabel nur eine einzige Haupt- Handlung haben muß, wenn sie gut seyn soll: So theilte man doch der Abwechselung halber, dieselbe in fünf Theile ein, die man Actus oder Handlungen nennte:
Neue minor quinto, nec sit productior actu Fabula, quae vult spectari & spectata reponi.
sagt Horatius. Die Ursache dieser fünffachen Eintheilung ist wohl freylich willkührlich gewesen: Jndessen ist diese Zahl sehr bequem, damit dem Zuschauer nicht die Zeit gar zu lang würde. Denn wenn jede Handlung eine halbe Stunde dau- rete, so dann aber der Chor sein Lied darzwischen sang: So konnte das Spiel nicht viel länger als drey Stunden dauren; welches eben die rechte Zeit ist, die sich ohne Ueberdruß einem Schauspiele wiedmen läst. Es waren aber diese fünf Hand- lungen untereinander eben durch den Chor der Sänger ver- bunden; und also wurde die Aufmercksamkeit der Zuschauer auf die gespielte Fabel nie gantz unterbrochen: so wie es bey uns durch die Musicanten geschieht, die allerley lustige Stü- cke darzwischen spielen; oder auch wohl gar durch Täntzer, die sich zwischen den Handlungen sehen lassen. Dieser Zusam- menhang des gantzen Stückes that in der That sehr viel da- zu, daß die gantze Tragödie einen starcken Eindruck in die Gemüther machte: und Racine hat auch in neuern Zeiten et- liche Stücke von der Art aufs Parisische Theater gebracht: die nicht wenig Beyfall deswegen erhalten haben. Jch wun- dre mich nur, daß man dieses nicht durchgehends wieder auf- gebracht hat.
Von
Des II Theils X Capitel
zwiſchen dem erſten und letzten Liede geſpielt und geſungen wurde, nennte man Epiſodium; was vor dem Singen vor- hergieng, den Eingang oder die Vorrede, und was darnach zuletzt folgte, den Ausgang oder Beſchluß. ſ. Ariſt. Poet. c. 12. ſo daß auf die Art eine Tragoͤdie in drey ſehr ungleiche Theile unterſchieden wurde.
Was den andern Theil der Tragoͤdie, der nicht geſungen ward, anlanget, ſo beſtund derſelbe aus den Unterredungen der auftretenden Perſonen; die eine gewiſſe Fabel vorſtelle- ten. Ungeachtet nun dieſe Fabel nur eine einzige Haupt- Handlung haben muß, wenn ſie gut ſeyn ſoll: So theilte man doch der Abwechſelung halber, dieſelbe in fuͤnf Theile ein, die man Actus oder Handlungen nennte:
Neue minor quinto, nec ſit productior actu Fabula, quae vult ſpectari & ſpectata reponi.
ſagt Horatius. Die Urſache dieſer fuͤnffachen Eintheilung iſt wohl freylich willkuͤhrlich geweſen: Jndeſſen iſt dieſe Zahl ſehr bequem, damit dem Zuſchauer nicht die Zeit gar zu lang wuͤrde. Denn wenn jede Handlung eine halbe Stunde dau- rete, ſo dann aber der Chor ſein Lied darzwiſchen ſang: So konnte das Spiel nicht viel laͤnger als drey Stunden dauren; welches eben die rechte Zeit iſt, die ſich ohne Ueberdruß einem Schauſpiele wiedmen laͤſt. Es waren aber dieſe fuͤnf Hand- lungen untereinander eben durch den Chor der Saͤnger ver- bunden; und alſo wurde die Aufmerckſamkeit der Zuſchauer auf die geſpielte Fabel nie gantz unterbrochen: ſo wie es bey uns durch die Muſicanten geſchieht, die allerley luſtige Stuͤ- cke darzwiſchen ſpielen; oder auch wohl gar durch Taͤntzer, die ſich zwiſchen den Handlungen ſehen laſſen. Dieſer Zuſam- menhang des gantzen Stuͤckes that in der That ſehr viel da- zu, daß die gantze Tragoͤdie einen ſtarcken Eindruck in die Gemuͤther machte: und Racine hat auch in neuern Zeiten et- liche Stuͤcke von der Art aufs Pariſiſche Theater gebracht: die nicht wenig Beyfall deswegen erhalten haben. Jch wun- dre mich nur, daß man dieſes nicht durchgehends wieder auf- gebracht hat.
Von
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[570/0598]
Des II Theils X Capitel
zwiſchen dem erſten und letzten Liede geſpielt und geſungen
wurde, nennte man Epiſodium; was vor dem Singen vor-
hergieng, den Eingang oder die Vorrede, und was darnach
zuletzt folgte, den Ausgang oder Beſchluß. ſ. Ariſt. Poet.
c. 12. ſo daß auf die Art eine Tragoͤdie in drey ſehr ungleiche
Theile unterſchieden wurde.
Was den andern Theil der Tragoͤdie, der nicht geſungen
ward, anlanget, ſo beſtund derſelbe aus den Unterredungen
der auftretenden Perſonen; die eine gewiſſe Fabel vorſtelle-
ten. Ungeachtet nun dieſe Fabel nur eine einzige Haupt-
Handlung haben muß, wenn ſie gut ſeyn ſoll: So theilte man
doch der Abwechſelung halber, dieſelbe in fuͤnf Theile ein, die
man Actus oder Handlungen nennte:
Neue minor quinto, nec ſit productior actu
Fabula, quae vult ſpectari & ſpectata reponi.
ſagt Horatius. Die Urſache dieſer fuͤnffachen Eintheilung
iſt wohl freylich willkuͤhrlich geweſen: Jndeſſen iſt dieſe Zahl
ſehr bequem, damit dem Zuſchauer nicht die Zeit gar zu lang
wuͤrde. Denn wenn jede Handlung eine halbe Stunde dau-
rete, ſo dann aber der Chor ſein Lied darzwiſchen ſang: So
konnte das Spiel nicht viel laͤnger als drey Stunden dauren;
welches eben die rechte Zeit iſt, die ſich ohne Ueberdruß einem
Schauſpiele wiedmen laͤſt. Es waren aber dieſe fuͤnf Hand-
lungen untereinander eben durch den Chor der Saͤnger ver-
bunden; und alſo wurde die Aufmerckſamkeit der Zuſchauer
auf die geſpielte Fabel nie gantz unterbrochen: ſo wie es bey
uns durch die Muſicanten geſchieht, die allerley luſtige Stuͤ-
cke darzwiſchen ſpielen; oder auch wohl gar durch Taͤntzer, die
ſich zwiſchen den Handlungen ſehen laſſen. Dieſer Zuſam-
menhang des gantzen Stuͤckes that in der That ſehr viel da-
zu, daß die gantze Tragoͤdie einen ſtarcken Eindruck in die
Gemuͤther machte: und Racine hat auch in neuern Zeiten et-
liche Stuͤcke von der Art aufs Pariſiſche Theater gebracht:
die nicht wenig Beyfall deswegen erhalten haben. Jch wun-
dre mich nur, daß man dieſes nicht durchgehends wieder auf-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/598>, abgerufen am 22.11.2024.
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