fassung erhielte Euripides die Schaubühne, Sophocles aber brachte sie noch zu größerer Vollkommenheit. Er stellte anstatt der vorigen zwo Personen, nach Gelegenheit auch wohl drey zugleich auf, die miteinander sprechen musten, und erfand noch bessere Verzierungen vor die Bühne; dadurch die Augen der Leute mehr gefüllet wurden. Ja er richtete auch die Lieder des Chores, die allezeit zwischen jeder Hand- lung gesungen wurden, so ein, daß sie sich mit zu der Tragö- die schicken musten: da sie vorher von gantz andern, mehren- theils lustigen Materien zu handeln pflegten. Vor Alters hatte man die vierfüßigen Jambischen Verße, die sehr be- quem zum Singen waren, und so zu reden recht zum Sprun- ge giengen, gebraucht; nachmahls aber wurden die sechs- füßigen Jambischen eingeführt: Eben so wie es bey uns Deutschen gegangen, wo man vor Opitzen lauter vierfüßige Verße zu Comödien gebraucht hat, wie aus Hans Sachsen und andern zu ersehen ist.
Aus dem allen erhellet nun wohl zur Gnüge, daß die Tragödie in ihrem Ursprunge gantz was anders gewesen als sie hernach geworden. Aus den abgeschmacktesten Liedern ist sie das ernsthaffteste und beweglichste Stücke geworden, so die gantze Poesie aufzuweisen hat. Was vorhin ein Neben- werck war, und von den Griechen Episodium genennet wur- de, nehmlich die eingeschalteten Erzehlungen und Gespräche, zwischen den Liedern, ist hernach das Hauptwerck gewor- den. Das vorige satirische Schertzen hat sich in ein recht prächtiges und lehrreiches Wesen verwandelt; so daß sich die ansehnlichsten Leute nicht mehr schämen dorften Zuschauer abzugeben. Die Athenienser waren auch dergestalt darauf erpicht, daß sie sich fast eine Schuldigkeit machten die Tra- gödien zu besuchen. Ja weil sich die Poeten in allen Stü- cken der Religion bequemeten, und die vortrefflichsten Sit- tenlehren und Tugendsprüche darinn häufig einstreueten: so wurde diese Art von Schauspielen eine Art des Gottesdien- stes; die auch in der That vors Volck viel erbaulicher war, als alle die Opfer und übrigen Ceremonien des Heyden- thums. Dazu trug nun hauptsächlich der Chor viel bey, der
alle-
Des II Theils X Capitel
faſſung erhielte Euripides die Schaubuͤhne, Sophocles aber brachte ſie noch zu groͤßerer Vollkommenheit. Er ſtellte anſtatt der vorigen zwo Perſonen, nach Gelegenheit auch wohl drey zugleich auf, die miteinander ſprechen muſten, und erfand noch beſſere Verzierungen vor die Buͤhne; dadurch die Augen der Leute mehr gefuͤllet wurden. Ja er richtete auch die Lieder des Chores, die allezeit zwiſchen jeder Hand- lung geſungen wurden, ſo ein, daß ſie ſich mit zu der Tragoͤ- die ſchicken muſten: da ſie vorher von gantz andern, mehren- theils luſtigen Materien zu handeln pflegten. Vor Alters hatte man die vierfuͤßigen Jambiſchen Verße, die ſehr be- quem zum Singen waren, und ſo zu reden recht zum Sprun- ge giengen, gebraucht; nachmahls aber wurden die ſechs- fuͤßigen Jambiſchen eingefuͤhrt: Eben ſo wie es bey uns Deutſchen gegangen, wo man vor Opitzen lauter vierfuͤßige Verße zu Comoͤdien gebraucht hat, wie aus Hans Sachſen und andern zu erſehen iſt.
Aus dem allen erhellet nun wohl zur Gnuͤge, daß die Tragoͤdie in ihrem Urſprunge gantz was anders geweſen als ſie hernach geworden. Aus den abgeſchmackteſten Liedern iſt ſie das ernſthaffteſte und beweglichſte Stuͤcke geworden, ſo die gantze Poeſie aufzuweiſen hat. Was vorhin ein Neben- werck war, und von den Griechen Epiſodium genennet wur- de, nehmlich die eingeſchalteten Erzehlungen und Geſpraͤche, zwiſchen den Liedern, iſt hernach das Hauptwerck gewor- den. Das vorige ſatiriſche Schertzen hat ſich in ein recht praͤchtiges und lehrreiches Weſen verwandelt; ſo daß ſich die anſehnlichſten Leute nicht mehr ſchaͤmen dorften Zuſchauer abzugeben. Die Athenienſer waren auch dergeſtalt darauf erpicht, daß ſie ſich faſt eine Schuldigkeit machten die Tra- goͤdien zu beſuchen. Ja weil ſich die Poeten in allen Stuͤ- cken der Religion bequemeten, und die vortrefflichſten Sit- tenlehren und Tugendſpruͤche darinn haͤufig einſtreueten: ſo wurde dieſe Art von Schauſpielen eine Art des Gottesdien- ſtes; die auch in der That vors Volck viel erbaulicher war, als alle die Opfer und uͤbrigen Ceremonien des Heyden- thums. Dazu trug nun hauptſaͤchlich der Chor viel bey, der
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[566/0594]
Des II Theils X Capitel
faſſung erhielte Euripides die Schaubuͤhne, Sophocles aber
brachte ſie noch zu groͤßerer Vollkommenheit. Er ſtellte
anſtatt der vorigen zwo Perſonen, nach Gelegenheit auch
wohl drey zugleich auf, die miteinander ſprechen muſten, und
erfand noch beſſere Verzierungen vor die Buͤhne; dadurch
die Augen der Leute mehr gefuͤllet wurden. Ja er richtete
auch die Lieder des Chores, die allezeit zwiſchen jeder Hand-
lung geſungen wurden, ſo ein, daß ſie ſich mit zu der Tragoͤ-
die ſchicken muſten: da ſie vorher von gantz andern, mehren-
theils luſtigen Materien zu handeln pflegten. Vor Alters
hatte man die vierfuͤßigen Jambiſchen Verße, die ſehr be-
quem zum Singen waren, und ſo zu reden recht zum Sprun-
ge giengen, gebraucht; nachmahls aber wurden die ſechs-
fuͤßigen Jambiſchen eingefuͤhrt: Eben ſo wie es bey uns
Deutſchen gegangen, wo man vor Opitzen lauter vierfuͤßige
Verße zu Comoͤdien gebraucht hat, wie aus Hans Sachſen
und andern zu erſehen iſt.
Aus dem allen erhellet nun wohl zur Gnuͤge, daß die
Tragoͤdie in ihrem Urſprunge gantz was anders geweſen als
ſie hernach geworden. Aus den abgeſchmackteſten Liedern
iſt ſie das ernſthaffteſte und beweglichſte Stuͤcke geworden, ſo
die gantze Poeſie aufzuweiſen hat. Was vorhin ein Neben-
werck war, und von den Griechen Epiſodium genennet wur-
de, nehmlich die eingeſchalteten Erzehlungen und Geſpraͤche,
zwiſchen den Liedern, iſt hernach das Hauptwerck gewor-
den. Das vorige ſatiriſche Schertzen hat ſich in ein recht
praͤchtiges und lehrreiches Weſen verwandelt; ſo daß ſich
die anſehnlichſten Leute nicht mehr ſchaͤmen dorften Zuſchauer
abzugeben. Die Athenienſer waren auch dergeſtalt darauf
erpicht, daß ſie ſich faſt eine Schuldigkeit machten die Tra-
goͤdien zu beſuchen. Ja weil ſich die Poeten in allen Stuͤ-
cken der Religion bequemeten, und die vortrefflichſten Sit-
tenlehren und Tugendſpruͤche darinn haͤufig einſtreueten: ſo
wurde dieſe Art von Schauſpielen eine Art des Gottesdien-
ſtes; die auch in der That vors Volck viel erbaulicher war,
als alle die Opfer und uͤbrigen Ceremonien des Heyden-
thums. Dazu trug nun hauptſaͤchlich der Chor viel bey, der
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/594>, abgerufen am 16.02.2025.
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