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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst.
315Auch unterscheidet sich mein Reim vom Trauer-Spiel,
Jm Ausdruck nicht so sehr, als wär es mir gleichviel,
Ob Davus etwas sagt, ob Pythias gelogen,
Die Simons schnöden Geitz um ein Talent betrogen,
Ob gar der bäurische und alte Greis Silen,
320Der sich geschickt erwieß dem Bachus vorzustehen,

Sich redend hören lässt. Jch werde zwar was dichten;
Doch meine Fabel stets auf etwas wahres richten,
Das jeder kennt und weiß. Ein jeder der es sieht
Wird glauben: Es sey leicht. Doch wenn er sich bemüht,
325Mir wircklich nachzugehn, wird er vergeblich schwitzen,

Und bey dem grösten Fleiß umsonst darüber sitzen.
So viel kömmt auf die Art und die Verbindung an;
Jndem die Ordnung auch was schlechtes adeln kan.

Nehmt euch doch wohl inacht, ihr Künstler in Satyren!
330Sie nicht nach Römer Art gantz artig aufzuführen
316
322
327
329
Wie
sollen nicht grob, bäurisch und gemein reden; sondern auch die Satire hat ihren Adel
im Ausdrucke. Z. E. Euripides in dem Cyclops, einem Satirischen Stücke, läßt
den Ulysses durch den Silenus fragen: Weil ihr nun die schöne Helena aus
Troja wiedergeholt, habt ihr sie nicht alle ein wenig lieb gehabt; weil
sie doch ohne dem ihre Männer gern wechseln mag?
Was vor Zoten hätte
da nicht ein heutiger Possenreisser einem solchen Satir in den Mund geleget?
316 Als wär es mir gleich viel. Der Character der Personen muß doch in
Acht genommen werden: und wenn gleich in der Tragödie alles erhaben und edel
klingen soll; so muß doch der Knecht Davus, nicht so reden wie Pythias, die in Lu-
cilii Comödie einen alten Simon ums Geld gebracht; viel weniger wie Silenus
selbst, des Gottes Bacchus Hofmeister.
322 Auf etwas wahres. Die damahligen Poeten mochten sich in den atella-
nischen Tragödien eben die Freyheit nehmen, die in Comödien gilt, und ihre Fa-
beln nicht aus der Historie ziehen. Aber Horatz will, man soll es eben so wie mit
andern tragischen Fabeln machen, die am besten sind, wenn sie aus den Geschichten
gezogen worden.
327 So viel kömmt etc. Dieses handelt nicht von der Schreibart, sondern
von der Einrichtung eines Schauspieles, woselbst die artige Verknüpfung der Be-
gebenheiten auch gemeine und bekannte Sachen beliebt macht und ihnen ein neues
Ansehen giebt.
329 Nehmt. Horatz kömmt noch einmahl auf die Mittelstrasse, die in satirischen
Schauspielen wegen des Ausdruckes beobachtet werden soll. Die gar zu grosse Zier-
de und Zärtlichkeit der damahligen Römer schickte sich nicht vor die Satiren die
vom Laude hergeholet waren: aber auch keine Unflätereyen; die gewiß in üppigen
Städten

Horatius von der Dicht-Kunſt.
315Auch unterſcheidet ſich mein Reim vom Trauer-Spiel,
Jm Ausdruck nicht ſo ſehr, als waͤr es mir gleichviel,
Ob Davus etwas ſagt, ob Pythias gelogen,
Die Simons ſchnoͤden Geitz um ein Talent betrogen,
Ob gar der baͤuriſche und alte Greis Silen,
320Der ſich geſchickt erwieß dem Bachus vorzuſtehen,

Sich redend hoͤren laͤſſt. Jch werde zwar was dichten;
Doch meine Fabel ſtets auf etwas wahres richten,
Das jeder kennt und weiß. Ein jeder der es ſieht
Wird glauben: Es ſey leicht. Doch wenn er ſich bemuͤht,
325Mir wircklich nachzugehn, wird er vergeblich ſchwitzen,

Und bey dem groͤſten Fleiß umſonſt daruͤber ſitzen.
So viel koͤmmt auf die Art und die Verbindung an;
Jndem die Ordnung auch was ſchlechtes adeln kan.

Nehmt euch doch wohl inacht, ihr Kuͤnſtler in Satyren!
330Sie nicht nach Roͤmer Art gantz artig aufzufuͤhren
316
322
327
329
Wie
ſollen nicht grob, baͤuriſch und gemein reden; ſondern auch die Satire hat ihren Adel
im Ausdrucke. Z. E. Euripides in dem Cyclops, einem Satiriſchen Stuͤcke, laͤßt
den Ulyſſes durch den Silenus fragen: Weil ihr nun die ſchöne Helena aus
Troja wiedergeholt, habt ihr ſie nicht alle ein wenig lieb gehabt; weil
ſie doch ohne dem ihre Männer gern wechſeln mag?
Was vor Zoten haͤtte
da nicht ein heutiger Poſſenreiſſer einem ſolchen Satir in den Mund geleget?
316 Als wär es mir gleich viel. Der Character der Perſonen muß doch in
Acht genommen werden: und wenn gleich in der Tragoͤdie alles erhaben und edel
klingen ſoll; ſo muß doch der Knecht Davus, nicht ſo reden wie Pythias, die in Lu-
cilii Comoͤdie einen alten Simon ums Geld gebracht; viel weniger wie Silenus
ſelbſt, des Gottes Bacchus Hofmeiſter.
322 Auf etwas wahres. Die damahligen Poeten mochten ſich in den atella-
niſchen Tragoͤdien eben die Freyheit nehmen, die in Comoͤdien gilt, und ihre Fa-
beln nicht aus der Hiſtorie ziehen. Aber Horatz will, man ſoll es eben ſo wie mit
andern tragiſchen Fabeln machen, die am beſten ſind, wenn ſie aus den Geſchichten
gezogen worden.
327 So viel kömmt ꝛc. Dieſes handelt nicht von der Schreibart, ſondern
von der Einrichtung eines Schauſpieles, woſelbſt die artige Verknuͤpfung der Be-
gebenheiten auch gemeine und bekannte Sachen beliebt macht und ihnen ein neues
Anſehen giebt.
329 Nehmt. Horatz koͤmmt noch einmahl auf die Mittelſtraſſe, die in ſatiriſchen
Schauſpielen wegen des Ausdruckes beobachtet werden ſoll. Die gar zu groſſe Zier-
de und Zaͤrtlichkeit der damahligen Roͤmer ſchickte ſich nicht vor die Satiren die
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[31/0059] Horatius von der Dicht-Kunſt. Auch unterſcheidet ſich mein Reim vom Trauer-Spiel, Jm Ausdruck nicht ſo ſehr, als waͤr es mir gleichviel, Ob Davus etwas ſagt, ob Pythias gelogen, Die Simons ſchnoͤden Geitz um ein Talent betrogen, Ob gar der baͤuriſche und alte Greis Silen, Der ſich geſchickt erwieß dem Bachus vorzuſtehen, Sich redend hoͤren laͤſſt. Jch werde zwar was dichten; Doch meine Fabel ſtets auf etwas wahres richten, Das jeder kennt und weiß. Ein jeder der es ſieht Wird glauben: Es ſey leicht. Doch wenn er ſich bemuͤht, Mir wircklich nachzugehn, wird er vergeblich ſchwitzen, Und bey dem groͤſten Fleiß umſonſt daruͤber ſitzen. So viel koͤmmt auf die Art und die Verbindung an; Jndem die Ordnung auch was ſchlechtes adeln kan. Nehmt euch doch wohl inacht, ihr Kuͤnſtler in Satyren! Sie nicht nach Roͤmer Art gantz artig aufzufuͤhren Wie 311 316 322 327 329 311 ſollen nicht grob, baͤuriſch und gemein reden; ſondern auch die Satire hat ihren Adel im Ausdrucke. Z. E. Euripides in dem Cyclops, einem Satiriſchen Stuͤcke, laͤßt den Ulyſſes durch den Silenus fragen: Weil ihr nun die ſchöne Helena aus Troja wiedergeholt, habt ihr ſie nicht alle ein wenig lieb gehabt; weil ſie doch ohne dem ihre Männer gern wechſeln mag? Was vor Zoten haͤtte da nicht ein heutiger Poſſenreiſſer einem ſolchen Satir in den Mund geleget? 316 Als wär es mir gleich viel. Der Character der Perſonen muß doch in Acht genommen werden: und wenn gleich in der Tragoͤdie alles erhaben und edel klingen ſoll; ſo muß doch der Knecht Davus, nicht ſo reden wie Pythias, die in Lu- cilii Comoͤdie einen alten Simon ums Geld gebracht; viel weniger wie Silenus ſelbſt, des Gottes Bacchus Hofmeiſter. 322 Auf etwas wahres. Die damahligen Poeten mochten ſich in den atella- niſchen Tragoͤdien eben die Freyheit nehmen, die in Comoͤdien gilt, und ihre Fa- beln nicht aus der Hiſtorie ziehen. Aber Horatz will, man ſoll es eben ſo wie mit andern tragiſchen Fabeln machen, die am beſten ſind, wenn ſie aus den Geſchichten gezogen worden. 327 So viel kömmt ꝛc. Dieſes handelt nicht von der Schreibart, ſondern von der Einrichtung eines Schauſpieles, woſelbſt die artige Verknuͤpfung der Be- gebenheiten auch gemeine und bekannte Sachen beliebt macht und ihnen ein neues Anſehen giebt. 329 Nehmt. Horatz koͤmmt noch einmahl auf die Mittelſtraſſe, die in ſatiriſchen Schauſpielen wegen des Ausdruckes beobachtet werden ſoll. Die gar zu groſſe Zier- de und Zaͤrtlichkeit der damahligen Roͤmer ſchickte ſich nicht vor die Satiren die vom Laude hergeholet waren: aber auch keine Unflaͤtereyen; die gewiß in uͤppigen Staͤdten

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/59>, abgerufen am 24.11.2024.