Alles trägt zur Gemüthsart eines Menschen was bey; die Natur und ihr Urheber, das Land da man gebohren ist, die Eltern und Vorfahren, das Geschlecht und Alter, das Vermögen und der Stand, die Auferziehung, die Zeiten darinn man lebt, die Glücks- und Unglücks-Fälle, die Per- sonen mit denen man umgeht, u. a. m. Dieses alles hilft die Neigungen und Sitten der Menschen bilden. Wenn also ein Poet die Gemüths-Art seiner Helden wahrscheinlich ma- chen will; so muß er es aus dergleichen Ursachen dem Leser begreiflich machen, wie und warum dieser oder jener Held diesen und keinen andern Character gehabt. So hat es Virgil mit dem Eneas gemacht, wie Bossu nach der Länge erweiset. Wie aber dieses bey den Hauptpersonen nöthig ist; also versteht sichs, daß es nicht bey allen übrigen angehe, die gleichwohl auch ihre Charactere haben müssen: wie die Exempel der Dido, des Turnus, des Mezentius u. d. gl. er- weisen. Wenn aber eine Person einmahl diesen oder jenen Character bekommen hat, so muß sie dabey bleiben, und nie- mahls dawieder handeln. Dieses ist die große Kunst die uns Horatz so sorgfältig eingeschärfet hat:
Intererit multum Dauusne loquatur an Heros, Maturusne senex, an adhuc florente iuuenta Feruidus; an matrona potens, an sedula nutrix; Mercatorne vagus, cultorne virentis agelli; Colchus an Assyrius; Thebis nutritus an Argis. aut famam sequere aut sibi conuenientia finge.
Und hernach lehrt er ausdrücklich, wie man einen Achilles, Jxion, Orestes, eine Medea, Jno und Jo, characterisiren solle. Daher kan man denn aus dem einmahl bekannten Charactere einer Person sogleich wissen, was sie in diesen oder jenen Umständen thun oder lassen werde. Z. E. Eneas ist uns in dem ersten Buche als sehr gottesfürchtig vorgestellt, und hernach reitzt ihn Dido, wieder den Befehl Jupiters in Africa zu bleiben. Hier denckt man gleich, daß der fromme Held solches nicht thun werde: Und er thut es auch wircklich nicht; welches die Schönheit wohl beobachteter Charactere ist. Ja dieser Character herrschet im gantzen Gedichte, in
allen
Des II Theils IX Capitel
Alles traͤgt zur Gemuͤthsart eines Menſchen was bey; die Natur und ihr Urheber, das Land da man gebohren iſt, die Eltern und Vorfahren, das Geſchlecht und Alter, das Vermoͤgen und der Stand, die Auferziehung, die Zeiten darinn man lebt, die Gluͤcks- und Ungluͤcks-Faͤlle, die Per- ſonen mit denen man umgeht, u. a. m. Dieſes alles hilft die Neigungen und Sitten der Menſchen bilden. Wenn alſo ein Poet die Gemuͤths-Art ſeiner Helden wahrſcheinlich ma- chen will; ſo muß er es aus dergleichen Urſachen dem Leſer begreiflich machen, wie und warum dieſer oder jener Held dieſen und keinen andern Character gehabt. So hat es Virgil mit dem Eneas gemacht, wie Boſſu nach der Laͤnge erweiſet. Wie aber dieſes bey den Hauptperſonen noͤthig iſt; alſo verſteht ſichs, daß es nicht bey allen uͤbrigen angehe, die gleichwohl auch ihre Charactere haben muͤſſen: wie die Exempel der Dido, des Turnus, des Mezentius u. d. gl. er- weiſen. Wenn aber eine Perſon einmahl dieſen oder jenen Character bekommen hat, ſo muß ſie dabey bleiben, und nie- mahls dawieder handeln. Dieſes iſt die große Kunſt die uns Horatz ſo ſorgfaͤltig eingeſchaͤrfet hat:
Intererit multum Dauusne loquatur an Heros, Maturusne ſenex, an adhuc florente iuuenta Feruidus; an matrona potens, an ſedula nutrix; Mercatorne vagus, cultorne virentis agelli; Colchus an Aſſyrius; Thebis nutritus an Argis. aut famam ſequere aut ſibi conuenientia finge.
Und hernach lehrt er ausdruͤcklich, wie man einen Achilles, Jxion, Oreſtes, eine Medea, Jno und Jo, characteriſiren ſolle. Daher kan man denn aus dem einmahl bekannten Charactere einer Perſon ſogleich wiſſen, was ſie in dieſen oder jenen Umſtaͤnden thun oder laſſen werde. Z. E. Eneas iſt uns in dem erſten Buche als ſehr gottesfuͤrchtig vorgeſtellt, und hernach reitzt ihn Dido, wieder den Befehl Jupiters in Africa zu bleiben. Hier denckt man gleich, daß der fromme Held ſolches nicht thun werde: Und er thut es auch wircklich nicht; welches die Schoͤnheit wohl beobachteter Charactere iſt. Ja dieſer Character herrſchet im gantzen Gedichte, in
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Des II Theils IX Capitel
Alles traͤgt zur Gemuͤthsart eines Menſchen was bey;
die Natur und ihr Urheber, das Land da man gebohren iſt,
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Vermoͤgen und der Stand, die Auferziehung, die Zeiten
darinn man lebt, die Gluͤcks- und Ungluͤcks-Faͤlle, die Per-
ſonen mit denen man umgeht, u. a. m. Dieſes alles hilft die
Neigungen und Sitten der Menſchen bilden. Wenn alſo
ein Poet die Gemuͤths-Art ſeiner Helden wahrſcheinlich ma-
chen will; ſo muß er es aus dergleichen Urſachen dem Leſer
begreiflich machen, wie und warum dieſer oder jener Held
dieſen und keinen andern Character gehabt. So hat es
Virgil mit dem Eneas gemacht, wie Boſſu nach der Laͤnge
erweiſet. Wie aber dieſes bey den Hauptperſonen noͤthig
iſt; alſo verſteht ſichs, daß es nicht bey allen uͤbrigen angehe,
die gleichwohl auch ihre Charactere haben muͤſſen: wie die
Exempel der Dido, des Turnus, des Mezentius u. d. gl. er-
weiſen. Wenn aber eine Perſon einmahl dieſen oder jenen
Character bekommen hat, ſo muß ſie dabey bleiben, und nie-
mahls dawieder handeln. Dieſes iſt die große Kunſt die uns
Horatz ſo ſorgfaͤltig eingeſchaͤrfet hat:
Intererit multum Dauusne loquatur an Heros,
Maturusne ſenex, an adhuc florente iuuenta
Feruidus; an matrona potens, an ſedula nutrix;
Mercatorne vagus, cultorne virentis agelli;
Colchus an Aſſyrius; Thebis nutritus an Argis.
aut famam ſequere aut ſibi conuenientia finge.
Und hernach lehrt er ausdruͤcklich, wie man einen Achilles,
Jxion, Oreſtes, eine Medea, Jno und Jo, characteriſiren
ſolle. Daher kan man denn aus dem einmahl bekannten
Charactere einer Perſon ſogleich wiſſen, was ſie in dieſen oder
jenen Umſtaͤnden thun oder laſſen werde. Z. E. Eneas iſt
uns in dem erſten Buche als ſehr gottesfuͤrchtig vorgeſtellt,
und hernach reitzt ihn Dido, wieder den Befehl Jupiters in
Africa zu bleiben. Hier denckt man gleich, daß der fromme
Held ſolches nicht thun werde: Und er thut es auch wircklich
nicht; welches die Schoͤnheit wohl beobachteter Charactere
iſt. Ja dieſer Character herrſchet im gantzen Gedichte, in
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/588>, abgerufen am 22.11.2024.
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