Was die Fabel anlangt, so wissen wir bereits, daß sel- bige anfangs gantz allgemein erdacht werden müsse, um eine moralische Wahrheit zu erläutern. Z. E. Jch wollte leh- ren, die Uneinigkeit sey sehr schädlich. Dieses auszuführen dichte ich, daß etliche Personen sich mit einander verbunden gehabt, ein gemeinschafftliches Gut zu suchen; wegen einer vor- gefallenen Mißhelligkeit aber hätten sie sich getrennet, und hätten sich also ihrem Feinde selbst in die Hände geliefert, der sie einzeln gar leichtlich zu Grunde zu richten vermocht. Die- ses ist die allgemeine Fabel, die der Natur nachahmet, allego- risch ist, und eine moralische Wahrheit in sich schließt. Ho- merus, der ein Helden-Gedichte daraus zu machen willens war, that nichts mehr dabey, als daß er den Personen Nah- men gab, und zwar solche, die in Griechenland berühmt wa- ren, und das gantze Land aufmercksam machen konnten. Denn er wollte nicht, wie ein Philosoph, in der Schule von Tugenden und Lastern predigen, sondern seinem gantzen Va- terlande, allen seinen Mitbürgern ein nützliches Buch in die Hände geben, daraus sie lernen könnten ihre gemeinschaftli- che Wohlfahrt zu befördern. Die kleinen Griechischen Staaten waren sehr uneins; und das rieb sie auf. Die nack- te Wahrheit dorfte er ihnen nicht sagen; darum verkleidet er sie in eine Fabel. Der Trojanische Krieg war noch in fri- schem Andencken, und hier fand er einen Agamemnon und Achilles, die mit einander uneins geworden: Es sey nun, daß der Ruff solches bis auf seine Zeiten gebracht; oder daß er es nur wahrscheinlicher Weise erdichtet. Jch singe vom Zorne Achillis, hebt er an, der vor die Griechen so verderblich gewesen, als derselbe mit dem Agamemnon uneinig gewor- den war.
Um nun diese Wahrheit als seine Absicht recht begreif- lich zu machen, muste er zeigen, daß alles vorgefallene Unglück aus der Zwietracht entstanden; und dieses gieng nicht besser an, als wenn er alle Griechische Bunds-Genossen anfänglich in der Zertrennung als unglücklich; hernach aber in der Ver- einigung als glücklich und sieghafft vorstellete. Dieses thut er nun, indem er erzehlet, daß die Griechen in Abwesenheit
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Was die Fabel anlangt, ſo wiſſen wir bereits, daß ſel- bige anfangs gantz allgemein erdacht werden muͤſſe, um eine moraliſche Wahrheit zu erlaͤutern. Z. E. Jch wollte leh- ren, die Uneinigkeit ſey ſehr ſchaͤdlich. Dieſes auszufuͤhren dichte ich, daß etliche Perſonen ſich mit einander verbunden gehabt, ein gemeinſchafftliches Gut zu ſuchen; wegen einer vor- gefallenen Mißhelligkeit aber haͤtten ſie ſich getrennet, und haͤtten ſich alſo ihrem Feinde ſelbſt in die Haͤnde geliefert, der ſie einzeln gar leichtlich zu Grunde zu richten vermocht. Die- ſes iſt die allgemeine Fabel, die der Natur nachahmet, allego- riſch iſt, und eine moraliſche Wahrheit in ſich ſchließt. Ho- merus, der ein Helden-Gedichte daraus zu machen willens war, that nichts mehr dabey, als daß er den Perſonen Nah- men gab, und zwar ſolche, die in Griechenland beruͤhmt wa- ren, und das gantze Land aufmerckſam machen konnten. Denn er wollte nicht, wie ein Philoſoph, in der Schule von Tugenden und Laſtern predigen, ſondern ſeinem gantzen Va- terlande, allen ſeinen Mitbuͤrgern ein nuͤtzliches Buch in die Haͤnde geben, daraus ſie lernen koͤnnten ihre gemeinſchaftli- che Wohlfahrt zu befoͤrdern. Die kleinen Griechiſchen Staaten waren ſehr uneins; und das rieb ſie auf. Die nack- te Wahrheit dorfte er ihnen nicht ſagen; darum verkleidet er ſie in eine Fabel. Der Trojaniſche Krieg war noch in fri- ſchem Andencken, und hier fand er einen Agamemnon und Achilles, die mit einander uneins geworden: Es ſey nun, daß der Ruff ſolches bis auf ſeine Zeiten gebracht; oder daß er es nur wahrſcheinlicher Weiſe erdichtet. Jch ſinge vom Zorne Achillis, hebt er an, der vor die Griechen ſo verderblich geweſen, als derſelbe mit dem Agamemnon uneinig gewor- den war.
Um nun dieſe Wahrheit als ſeine Abſicht recht begreif- lich zu machen, muſte er zeigen, daß alles vorgefallene Ungluͤck aus der Zwietracht entſtanden; und dieſes gieng nicht beſſer an, als wenn er alle Griechiſche Bunds-Genoſſen anfaͤnglich in der Zertrennung als ungluͤcklich; hernach aber in der Ver- einigung als gluͤcklich und ſieghafft vorſtellete. Dieſes thut er nun, indem er erzehlet, daß die Griechen in Abweſenheit
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Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte.
Was die Fabel anlangt, ſo wiſſen wir bereits, daß ſel-
bige anfangs gantz allgemein erdacht werden muͤſſe, um eine
moraliſche Wahrheit zu erlaͤutern. Z. E. Jch wollte leh-
ren, die Uneinigkeit ſey ſehr ſchaͤdlich. Dieſes auszufuͤhren
dichte ich, daß etliche Perſonen ſich mit einander verbunden
gehabt, ein gemeinſchafftliches Gut zu ſuchen; wegen einer vor-
gefallenen Mißhelligkeit aber haͤtten ſie ſich getrennet, und
haͤtten ſich alſo ihrem Feinde ſelbſt in die Haͤnde geliefert, der
ſie einzeln gar leichtlich zu Grunde zu richten vermocht. Die-
ſes iſt die allgemeine Fabel, die der Natur nachahmet, allego-
riſch iſt, und eine moraliſche Wahrheit in ſich ſchließt. Ho-
merus, der ein Helden-Gedichte daraus zu machen willens
war, that nichts mehr dabey, als daß er den Perſonen Nah-
men gab, und zwar ſolche, die in Griechenland beruͤhmt wa-
ren, und das gantze Land aufmerckſam machen konnten.
Denn er wollte nicht, wie ein Philoſoph, in der Schule von
Tugenden und Laſtern predigen, ſondern ſeinem gantzen Va-
terlande, allen ſeinen Mitbuͤrgern ein nuͤtzliches Buch in die
Haͤnde geben, daraus ſie lernen koͤnnten ihre gemeinſchaftli-
che Wohlfahrt zu befoͤrdern. Die kleinen Griechiſchen
Staaten waren ſehr uneins; und das rieb ſie auf. Die nack-
te Wahrheit dorfte er ihnen nicht ſagen; darum verkleidet er
ſie in eine Fabel. Der Trojaniſche Krieg war noch in fri-
ſchem Andencken, und hier fand er einen Agamemnon und
Achilles, die mit einander uneins geworden: Es ſey nun, daß
der Ruff ſolches bis auf ſeine Zeiten gebracht; oder daß er
es nur wahrſcheinlicher Weiſe erdichtet. Jch ſinge vom
Zorne Achillis, hebt er an, der vor die Griechen ſo verderblich
geweſen, als derſelbe mit dem Agamemnon uneinig gewor-
den war.
Um nun dieſe Wahrheit als ſeine Abſicht recht begreif-
lich zu machen, muſte er zeigen, daß alles vorgefallene Ungluͤck
aus der Zwietracht entſtanden; und dieſes gieng nicht beſſer
an, als wenn er alle Griechiſche Bunds-Genoſſen anfaͤnglich
in der Zertrennung als ungluͤcklich; hernach aber in der Ver-
einigung als gluͤcklich und ſieghafft vorſtellete. Dieſes thut
er nun, indem er erzehlet, daß die Griechen in Abweſenheit
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/577>, abgerufen am 22.11.2024.
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