nichts ist wunderlicher, als wenn Tasso selbst in der Vorrede erklären will, was seine gantze Fabel vor einen allegorischen Verstand habe. Sein gantzes Gedichte soll das menschliche Leben abbilden. Das gantze Christliche Kriegs-Heer be- deutet den Menschen im mänulichen Alter, und zwar die Heer- Führer die Seele, und die Soldaten den Leib. Die Stadt Jerusalem, die zwischen Bergen und Felsen liegt, und so schwer zu erobern ist, soll die bürgerliche Glückseligkeit bedeu- ten, die auf dem hohen Gipfel der Tugend erstlich zu erlan- gen stehet. Gottfried der oberste Befehlshaber der Armee stellet den Verstand des Menschen vor. Rinaldo und Tan- credi bedeuten die untern Seelen-Kräffte. Die Uneinigkei- ten unter den andern Helden bedeuten den Streit zwischen den Begierden des Menschen: Die Hexen-Meister Jsmeno und Armida, die Versuchungen des Teufels, und so weiter. Solche Geheimnisse hätte nun wohl kein Mensch in dem be- freyten Jerusalem gesuchet, wenn uns der Poet sie nicht selbst erkläret hätte. Allein, da dieses ein Uberrest des übeln Ge- schmacks ist, der zu der Zeit unter vielen noch herrschete; so wollen wir diesen Fehler an Tasso übersehen: zumahl seine Vorrede gerade das allerschlechteste ist, was an seinem gan- tzen Gedichte vorkommt.
Meine Absicht und der Raum leidet es nicht, von den Portugiesischen und Spanischen Helden-Gedichten zu han- deln. Voltaire hat dem Camoens die Ehre gethan, seine Lusiade, und dem Alonzo seine Araucana unter die Zahl der Helden-Gedichte zu zehlen. Allein nach unsrer Beschrei- bung und den Regeln der Criticorum schickt sich dieser Nah- me vor ihre Wercke nicht, denn sie sind nur Poetisch abge- faßte Historien; aber keine epische Fabeln, die unter den Al- legorien einer Handlung moralische Wahrheiten lehren. Allein, Voltaire hat es vor gut befunden, zum Helden-Ge- dichte weiter nichts, als die poetische Erzehlung einer merck- würdigen That oder Handlung zu erfordern: Das übrige möchte aussehen wie es wollte. Vermuthlich hat ihn seine Henriade dazu verleitet, die er allem Ansehen nach eher ge- schrieben; als er die Regeln des Helden-Gedichtes recht inne
gehabt.
Des II Theils IX Capitel
nichts iſt wunderlicher, als wenn Taſſo ſelbſt in der Vorrede erklaͤren will, was ſeine gantze Fabel vor einen allegoriſchen Verſtand habe. Sein gantzes Gedichte ſoll das menſchliche Leben abbilden. Das gantze Chriſtliche Kriegs-Heer be- deutet den Menſchen im maͤnulichen Alter, und zwar die Heer- Fuͤhrer die Seele, und die Soldaten den Leib. Die Stadt Jeruſalem, die zwiſchen Bergen und Felſen liegt, und ſo ſchwer zu erobern iſt, ſoll die buͤrgerliche Gluͤckſeligkeit bedeu- ten, die auf dem hohen Gipfel der Tugend erſtlich zu erlan- gen ſtehet. Gottfried der oberſte Befehlshaber der Armee ſtellet den Verſtand des Menſchen vor. Rinaldo und Tan- credi bedeuten die untern Seelen-Kraͤffte. Die Uneinigkei- ten unter den andern Helden bedeuten den Streit zwiſchen den Begierden des Menſchen: Die Hexen-Meiſter Jſmeno und Armida, die Verſuchungen des Teufels, und ſo weiter. Solche Geheimniſſe haͤtte nun wohl kein Menſch in dem be- freyten Jeruſalem geſuchet, wenn uns der Poet ſie nicht ſelbſt erklaͤret haͤtte. Allein, da dieſes ein Uberreſt des uͤbeln Ge- ſchmacks iſt, der zu der Zeit unter vielen noch herrſchete; ſo wollen wir dieſen Fehler an Taſſo uͤberſehen: zumahl ſeine Vorrede gerade das allerſchlechteſte iſt, was an ſeinem gan- tzen Gedichte vorkommt.
Meine Abſicht und der Raum leidet es nicht, von den Portugieſiſchen und Spaniſchen Helden-Gedichten zu han- deln. Voltaire hat dem Camoens die Ehre gethan, ſeine Luſiade, und dem Alonzo ſeine Araucana unter die Zahl der Helden-Gedichte zu zehlen. Allein nach unſrer Beſchrei- bung und den Regeln der Criticorum ſchickt ſich dieſer Nah- me vor ihre Wercke nicht, denn ſie ſind nur Poetiſch abge- faßte Hiſtorien; aber keine epiſche Fabeln, die unter den Al- legorien einer Handlung moraliſche Wahrheiten lehren. Allein, Voltaire hat es vor gut befunden, zum Helden-Ge- dichte weiter nichts, als die poetiſche Erzehlung einer merck- wuͤrdigen That oder Handlung zu erfordern: Das uͤbrige moͤchte ausſehen wie es wollte. Vermuthlich hat ihn ſeine Henriade dazu verleitet, die er allem Anſehen nach eher ge- ſchrieben; als er die Regeln des Helden-Gedichtes recht inne
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Des II Theils IX Capitel
nichts iſt wunderlicher, als wenn Taſſo ſelbſt in der Vorrede
erklaͤren will, was ſeine gantze Fabel vor einen allegoriſchen
Verſtand habe. Sein gantzes Gedichte ſoll das menſchliche
Leben abbilden. Das gantze Chriſtliche Kriegs-Heer be-
deutet den Menſchen im maͤnulichen Alter, und zwar die Heer-
Fuͤhrer die Seele, und die Soldaten den Leib. Die Stadt
Jeruſalem, die zwiſchen Bergen und Felſen liegt, und ſo
ſchwer zu erobern iſt, ſoll die buͤrgerliche Gluͤckſeligkeit bedeu-
ten, die auf dem hohen Gipfel der Tugend erſtlich zu erlan-
gen ſtehet. Gottfried der oberſte Befehlshaber der Armee
ſtellet den Verſtand des Menſchen vor. Rinaldo und Tan-
credi bedeuten die untern Seelen-Kraͤffte. Die Uneinigkei-
ten unter den andern Helden bedeuten den Streit zwiſchen
den Begierden des Menſchen: Die Hexen-Meiſter Jſmeno
und Armida, die Verſuchungen des Teufels, und ſo weiter.
Solche Geheimniſſe haͤtte nun wohl kein Menſch in dem be-
freyten Jeruſalem geſuchet, wenn uns der Poet ſie nicht ſelbſt
erklaͤret haͤtte. Allein, da dieſes ein Uberreſt des uͤbeln Ge-
ſchmacks iſt, der zu der Zeit unter vielen noch herrſchete;
ſo wollen wir dieſen Fehler an Taſſo uͤberſehen: zumahl ſeine
Vorrede gerade das allerſchlechteſte iſt, was an ſeinem gan-
tzen Gedichte vorkommt.
Meine Abſicht und der Raum leidet es nicht, von den
Portugieſiſchen und Spaniſchen Helden-Gedichten zu han-
deln. Voltaire hat dem Camoens die Ehre gethan, ſeine
Luſiade, und dem Alonzo ſeine Araucana unter die Zahl der
Helden-Gedichte zu zehlen. Allein nach unſrer Beſchrei-
bung und den Regeln der Criticorum ſchickt ſich dieſer Nah-
me vor ihre Wercke nicht, denn ſie ſind nur Poetiſch abge-
faßte Hiſtorien; aber keine epiſche Fabeln, die unter den Al-
legorien einer Handlung moraliſche Wahrheiten lehren.
Allein, Voltaire hat es vor gut befunden, zum Helden-Ge-
dichte weiter nichts, als die poetiſche Erzehlung einer merck-
wuͤrdigen That oder Handlung zu erfordern: Das uͤbrige
moͤchte ausſehen wie es wollte. Vermuthlich hat ihn ſeine
Henriade dazu verleitet, die er allem Anſehen nach eher ge-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/574>, abgerufen am 16.02.2025.
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