Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Der Dichter, so zu erst sich durch ein tragisch Lied, Um einen schlechten Bock als den Gewinnst bemüht, Entblöste bald darauf die bäurischen Satiren, Und ließ bey seinem Ernst auch Schertz und Stacheln spüren. 295Kein Wunder, denn das Volck verlangte zu der Zeit, Durch neue Reizungen und lauter Lustigkeit, Hinein gelockt zu seyn; wenn es an Feyer-Tagen Den Gottesdienst vollbracht, und denn bey Sauf-Gelagen, 291 293 297 Sich die Poeten in den Oden ihrer Chöre an; und überschritten die Schrancken der Wahrscheinlichkeit dadurch sehr. 291 Der Dichter. Er redet hier von dem Pratinas, dem Ersinder der Comö- dien. Es hatte derselbe vorher auch Tragödien gemacht, die dazumahl noch nichts als blosse Lieder waren, so von einer grossen Anzahl Sänger auf Dörfern, und Marckt- Flecken den Leuten vorgesungen wurden. Es hat zu seiner Zeit schon mehrere gege- ben, die mit einander um den Vorzug gestritten, und der Preis der zum Gewinn auf- gesetzt war, ist ein Bock gewesen. Dieser Pratinas lebte nach Plutarchi Bericht gleich nach dem Thespis, der die Tragödie erfunden. 293 Entblößte. Dieser Poet Pratinas hat den gantzen Chor aus nackten Satyren unter der Anführung Sileni ihres Obersten bestehen lassen; und also eine Art von satirischen Tragödien aufgebracht. Es waren aber die Stachelreden dieser so genannten Satyren nicht so lustig und schertzhafft als die Comödien. Dieses hätte sich mit der tragischen Ernsthafftigkeit nicht zusammen gereimet; darum sagt Ho- ratz, incolumi grauitate, jocum tentauit asper. Sie sind mehr beißigt und scharf als lächerlich gewesen. Wir haben nur eine Probe von dieser Art, nehmlich des Euripides Cyclops übrig behalten. 297 An Feyertagen. Die heydnische Religion war sehr lustig. Der vornehmste
Gottesdienst bestund im Opfern, dabey man wacker schmausete, und dem Gott Bachus zu Ehren sich einen Rausch truncke. Die ersten Tragödien waren nichts anders als Lieder, die demselben zu Ehren gesungen wurden, und die Stelle der Nach- mittags-Andachten vertraten. Da man nun zwischen die Lieder des Chores die redenden Personen eingeschaltet hatte, die eine besondre Fabel spieleten, dazu sich denn auch der Chor hernach schicken muste: so hatte der Gott Bachus gleichsam seine gantze Verehrung eingebüsset. Das trunckne Volck hergegen war dieser beliebten Gottheit noch sehr gewogen; daher bequemte sich dieser Poet eines Theils dieser Neigung und mischte unter die ernsthafften tragischen Vorstellungen Chöre von Satiren, die auch was lustiges mit darunter machten.
Der Dichter, ſo zu erſt ſich durch ein tragiſch Lied, Um einen ſchlechten Bock als den Gewinnſt bemuͤht, Entbloͤſte bald darauf die baͤuriſchen Satiren, Und ließ bey ſeinem Ernſt auch Schertz und Stacheln ſpuͤren. 295Kein Wunder, denn das Volck verlangte zu der Zeit, Durch neue Reizungen und lauter Luſtigkeit, Hinein gelockt zu ſeyn; wenn es an Feyer-Tagen Den Gottesdienſt vollbracht, und denn bey Sauf-Gelagen, 291 293 297 Sich die Poeten in den Oden ihrer Choͤre an; und uͤberſchritten die Schrancken der Wahrſcheinlichkeit dadurch ſehr. 291 Der Dichter. Er redet hier von dem Pratinas, dem Erſinder der Comoͤ- dien. Es hatte derſelbe vorher auch Tragoͤdien gemacht, die dazumahl noch nichts als bloſſe Lieder waren, ſo von einer groſſen Anzahl Saͤnger auf Doͤrfern, und Marckt- Flecken den Leuten vorgeſungen wurden. Es hat zu ſeiner Zeit ſchon mehrere gege- ben, die mit einander um den Vorzug geſtritten, und der Preis der zum Gewinn auf- geſetzt war, iſt ein Bock geweſen. Dieſer Pratinas lebte nach Plutarchi Bericht gleich nach dem Thespis, der die Tragoͤdie erfunden. 293 Entblößte. Dieſer Poet Pratinas hat den gantzen Chor aus nackten Satyren unter der Anfuͤhrung Sileni ihres Oberſten beſtehen laſſen; und alſo eine Art von ſatiriſchen Tragoͤdien aufgebracht. Es waren aber die Stachelreden dieſer ſo genannten Satyren nicht ſo luſtig und ſchertzhafft als die Comoͤdien. Dieſes haͤtte ſich mit der tragiſchen Ernſthafftigkeit nicht zuſammen gereimet; darum ſagt Ho- ratz, incolumi grauitate, jocum tentauit aſper. Sie ſind mehr beißigt und ſcharf als laͤcherlich geweſen. Wir haben nur eine Probe von dieſer Art, nehmlich des Euripides Cyclops uͤbrig behalten. 297 An Feyertagen. Die heydniſche Religion war ſehr luſtig. Der vornehmſte
Gottesdienſt beſtund im Opfern, dabey man wacker ſchmauſete, und dem Gott Bachus zu Ehren ſich einen Rauſch truncke. Die erſten Tragoͤdien waren nichts anders als Lieder, die demſelben zu Ehren geſungen wurden, und die Stelle der Nach- mittags-Andachten vertraten. Da man nun zwiſchen die Lieder des Chores die redenden Perſonen eingeſchaltet hatte, die eine beſondre Fabel ſpieleten, dazu ſich denn auch der Chor hernach ſchicken muſte: ſo hatte der Gott Bachus gleichſam ſeine gantze Verehrung eingebuͤſſet. Das trunckne Volck hergegen war dieſer beliebten Gottheit noch ſehr gewogen; daher bequemte ſich dieſer Poet eines Theils dieſer Neigung und miſchte unter die ernſthafften tragiſchen Vorſtellungen Choͤre von Satiren, die auch was luſtiges mit darunter machten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="10"> <l> <pb facs="#f0057" n="29"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Die Ubung ſamt der Kunſt hat ſehr beredt gemacht,</l><lb/> <l>Und oͤffters iſt der Reim ſo voll Geſchwulſt und Pracht,</l><lb/> <l>Als wenn Apollo ſpricht, der dort aus finſtern Kluͤfften<lb/><note place="left">290</note>Jn ſeine Prieſterin Orackel pflegt zu duͤfften.</l> </lg><lb/> <lg n="11"> <l>Der Dichter, ſo zu erſt ſich durch ein tragiſch Lied,</l><lb/> <l>Um einen ſchlechten Bock als den Gewinnſt bemuͤht,</l><lb/> <l>Entbloͤſte bald darauf die baͤuriſchen Satiren,</l><lb/> <l>Und ließ bey ſeinem Ernſt auch Schertz und Stacheln ſpuͤren.<lb/><note place="left">295</note>Kein Wunder, denn das Volck verlangte zu der Zeit,</l><lb/> <l>Durch neue Reizungen und lauter Luſtigkeit,</l><lb/> <l>Hinein gelockt zu ſeyn; wenn es an Feyer-Tagen</l><lb/> <l>Den Gottesdienſt vollbracht, und denn bey Sauf-Gelagen,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Sich</fw><lb/><note xml:id="f22" prev="#f21" place="foot" n="290">die Poeten in den Oden ihrer Choͤre an; und uͤberſchritten die Schrancken der<lb/> Wahrſcheinlichkeit dadurch ſehr.</note><lb/><note place="foot" n="291"><hi rendition="#fr">Der Dichter.</hi> Er redet hier von dem Pratinas, dem Erſinder der Comoͤ-<lb/> dien. Es hatte derſelbe vorher auch Tragoͤdien gemacht, die dazumahl noch nichts als<lb/> bloſſe Lieder waren, ſo von einer groſſen Anzahl Saͤnger auf Doͤrfern, und Marckt-<lb/> Flecken den Leuten vorgeſungen wurden. Es hat zu ſeiner Zeit ſchon mehrere gege-<lb/> ben, die mit einander um den Vorzug geſtritten, und der Preis der zum Gewinn auf-<lb/> geſetzt war, iſt ein Bock geweſen. Dieſer Pratinas lebte nach Plutarchi Bericht<lb/> gleich nach dem Thespis, der die Tragoͤdie erfunden.</note><lb/><note place="foot" n="293"><hi rendition="#fr">Entblößte.</hi> Dieſer Poet Pratinas hat den gantzen Chor aus nackten<lb/> Satyren unter der Anfuͤhrung Sileni ihres Oberſten beſtehen laſſen; und alſo eine<lb/> Art von ſatiriſchen Tragoͤdien aufgebracht. Es waren aber die Stachelreden dieſer<lb/> ſo genannten Satyren nicht ſo luſtig und ſchertzhafft als die Comoͤdien. Dieſes haͤtte<lb/> ſich mit der tragiſchen Ernſthafftigkeit nicht zuſammen gereimet; darum ſagt Ho-<lb/> ratz, <hi rendition="#aq">incolumi grauitate, jocum tentauit aſper.</hi> Sie ſind mehr beißigt und<lb/> ſcharf als laͤcherlich geweſen. Wir haben nur eine Probe von dieſer Art, nehmlich<lb/> des Euripides Cyclops uͤbrig behalten.</note><lb/><note place="foot" n="297"><hi rendition="#fr">An Feyertagen.</hi> Die heydniſche Religion war ſehr luſtig. Der vornehmſte<lb/> Gottesdienſt beſtund im Opfern, dabey man wacker ſchmauſete, und dem Gott<lb/> Bachus zu Ehren ſich einen Rauſch truncke. Die erſten Tragoͤdien waren nichts<lb/> anders als Lieder, die demſelben zu Ehren geſungen wurden, und die Stelle der Nach-<lb/> mittags-Andachten vertraten. Da man nun zwiſchen die Lieder des Chores die<lb/> redenden Perſonen eingeſchaltet hatte, die eine beſondre Fabel ſpieleten, dazu ſich<lb/> denn auch der Chor hernach ſchicken muſte: ſo hatte der Gott Bachus gleichſam ſeine<lb/> gantze Verehrung eingebuͤſſet. Das trunckne Volck hergegen war dieſer beliebten<lb/> Gottheit noch ſehr gewogen; daher bequemte ſich dieſer Poet eines Theils dieſer<lb/> Neigung und miſchte unter die ernſthafften tragiſchen Vorſtellungen Choͤre von<lb/> Satiren, die auch was luſtiges mit darunter machten.</note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [29/0057]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Die Ubung ſamt der Kunſt hat ſehr beredt gemacht,
Und oͤffters iſt der Reim ſo voll Geſchwulſt und Pracht,
Als wenn Apollo ſpricht, der dort aus finſtern Kluͤfften
Jn ſeine Prieſterin Orackel pflegt zu duͤfften.
Der Dichter, ſo zu erſt ſich durch ein tragiſch Lied,
Um einen ſchlechten Bock als den Gewinnſt bemuͤht,
Entbloͤſte bald darauf die baͤuriſchen Satiren,
Und ließ bey ſeinem Ernſt auch Schertz und Stacheln ſpuͤren.
Kein Wunder, denn das Volck verlangte zu der Zeit,
Durch neue Reizungen und lauter Luſtigkeit,
Hinein gelockt zu ſeyn; wenn es an Feyer-Tagen
Den Gottesdienſt vollbracht, und denn bey Sauf-Gelagen,
Sich
290
291
293
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290 die Poeten in den Oden ihrer Choͤre an; und uͤberſchritten die Schrancken der
Wahrſcheinlichkeit dadurch ſehr.
291 Der Dichter. Er redet hier von dem Pratinas, dem Erſinder der Comoͤ-
dien. Es hatte derſelbe vorher auch Tragoͤdien gemacht, die dazumahl noch nichts als
bloſſe Lieder waren, ſo von einer groſſen Anzahl Saͤnger auf Doͤrfern, und Marckt-
Flecken den Leuten vorgeſungen wurden. Es hat zu ſeiner Zeit ſchon mehrere gege-
ben, die mit einander um den Vorzug geſtritten, und der Preis der zum Gewinn auf-
geſetzt war, iſt ein Bock geweſen. Dieſer Pratinas lebte nach Plutarchi Bericht
gleich nach dem Thespis, der die Tragoͤdie erfunden.
293 Entblößte. Dieſer Poet Pratinas hat den gantzen Chor aus nackten
Satyren unter der Anfuͤhrung Sileni ihres Oberſten beſtehen laſſen; und alſo eine
Art von ſatiriſchen Tragoͤdien aufgebracht. Es waren aber die Stachelreden dieſer
ſo genannten Satyren nicht ſo luſtig und ſchertzhafft als die Comoͤdien. Dieſes haͤtte
ſich mit der tragiſchen Ernſthafftigkeit nicht zuſammen gereimet; darum ſagt Ho-
ratz, incolumi grauitate, jocum tentauit aſper. Sie ſind mehr beißigt und
ſcharf als laͤcherlich geweſen. Wir haben nur eine Probe von dieſer Art, nehmlich
des Euripides Cyclops uͤbrig behalten.
297 An Feyertagen. Die heydniſche Religion war ſehr luſtig. Der vornehmſte
Gottesdienſt beſtund im Opfern, dabey man wacker ſchmauſete, und dem Gott
Bachus zu Ehren ſich einen Rauſch truncke. Die erſten Tragoͤdien waren nichts
anders als Lieder, die demſelben zu Ehren geſungen wurden, und die Stelle der Nach-
mittags-Andachten vertraten. Da man nun zwiſchen die Lieder des Chores die
redenden Perſonen eingeſchaltet hatte, die eine beſondre Fabel ſpieleten, dazu ſich
denn auch der Chor hernach ſchicken muſte: ſo hatte der Gott Bachus gleichſam ſeine
gantze Verehrung eingebuͤſſet. Das trunckne Volck hergegen war dieſer beliebten
Gottheit noch ſehr gewogen; daher bequemte ſich dieſer Poet eines Theils dieſer
Neigung und miſchte unter die ernſthafften tragiſchen Vorſtellungen Choͤre von
Satiren, die auch was luſtiges mit darunter machten.
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