vier und zwantzig Büchern eine Fabel, die etwa sieben und vierzig Tage in ihrem Umfange begreift, und also nur ein sehr kleines Stücke des zehnjährigen Trojanischen Krieges aus- macht. Der Poet erzehlt uns darinn auf eine sehr edle Art, was zu der Uneinigkeit des Achilles mit dem Agememnon Ge- legenheit gegeben; nehmlich eine schöne Sclavin, die Aga- memnon dem Achilles mit Gewalt wegnehmen lassen: ferner wie offt die Griechen zurücke geschlagen worden, und wie viel wackere Helden sie darüber eingebüsset, als sie sich unterstan- den, auch ohne den Achilles die Stadt anzugreifen. End- lich, wie Achilles selbst durch den Verlust seines liebsten Freundes Patroclus, den Hector erschlagen hatte, dergestalt entrüstet worden, daß er, diesen Tod zu rächen, sich wieder mit den Seinen versöhnet, und den besten Trojanischen Hel- den, eben den Hector in einem einzelnen Gefechte erlegt, sei- nem todten Freunde aber ein prächtiges Leichen-Begäng- niß angestellet.
Man sieht also wohl, mit was vor einer Geschicklichkeit Homer seine Fabel zum Lobe Achillis eingerichtet. Seine Abwesenheit und Enthaltung aus der Armee macht das gan- tze Griechische Heer ohnmächtig, und seine Wiederkunft bringt auch den Sieg wieder. Wenn er also gleich die gröste Zeit müßig sitzet, und der Poet nichts von ihm erzehlen kan, so gereichet doch alles was geschieht, zu seinem Lobe: weil es unglücklich geht, und die Ursache keine andre ist; als weil er nicht mit fechten will. Die Uneinigkeit der griechischen Hel- den zieht also in ihrem Lager lauter Unglück nach sich; die Ver- einigung aber so zuletzt erfolgt, bringt einen erwünschten Er- folg, nehmlich den Sieg über die Trojaner zuwege. Wer kan bey dem allen noch zweifeln, ob auch Homerus in seinem gantzen Gedichte diese moralische Wahrheit habe zum Grun- de legen wollen: Die Mishelligkeit ist verderblich, die Ein- tracht aber überaus zuträglich? Und dieses ist die Zergliede- rung des ersten Homerischen Helden-Gedichtes, so wie sie von den scharfsinnigsten Criticis, nehmlich dem Aristoteles, Pa- ter le Bossu, und Dacier vorlängst gemacht worden.
Aus
Von der Epope oder dem Helden-Gedichte.
vier und zwantzig Buͤchern eine Fabel, die etwa ſieben und vierzig Tage in ihrem Umfange begreift, und alſo nur ein ſehr kleines Stuͤcke des zehnjaͤhrigen Trojaniſchen Krieges aus- macht. Der Poet erzehlt uns darinn auf eine ſehr edle Art, was zu der Uneinigkeit des Achilles mit dem Agememnon Ge- legenheit gegeben; nehmlich eine ſchoͤne Sclavin, die Aga- memnon dem Achilles mit Gewalt wegnehmen laſſen: ferner wie offt die Griechen zuruͤcke geſchlagen worden, und wie viel wackere Helden ſie daruͤber eingebuͤſſet, als ſie ſich unterſtan- den, auch ohne den Achilles die Stadt anzugreifen. End- lich, wie Achilles ſelbſt durch den Verluſt ſeines liebſten Freundes Patroclus, den Hector erſchlagen hatte, dergeſtalt entruͤſtet worden, daß er, dieſen Tod zu raͤchen, ſich wieder mit den Seinen verſoͤhnet, und den beſten Trojaniſchen Hel- den, eben den Hector in einem einzelnen Gefechte erlegt, ſei- nem todten Freunde aber ein praͤchtiges Leichen-Begaͤng- niß angeſtellet.
Man ſieht alſo wohl, mit was vor einer Geſchicklichkeit Homer ſeine Fabel zum Lobe Achillis eingerichtet. Seine Abweſenheit und Enthaltung aus der Armee macht das gan- tze Griechiſche Heer ohnmaͤchtig, und ſeine Wiederkunft bringt auch den Sieg wieder. Wenn er alſo gleich die groͤſte Zeit muͤßig ſitzet, und der Poet nichts von ihm erzehlen kan, ſo gereichet doch alles was geſchieht, zu ſeinem Lobe: weil es ungluͤcklich geht, und die Urſache keine andre iſt; als weil er nicht mit fechten will. Die Uneinigkeit der griechiſchen Hel- den zieht alſo in ihrem Lager lauter Ungluͤck nach ſich; die Ver- einigung aber ſo zuletzt erfolgt, bringt einen erwuͤnſchten Er- folg, nehmlich den Sieg uͤber die Trojaner zuwege. Wer kan bey dem allen noch zweifeln, ob auch Homerus in ſeinem gantzen Gedichte dieſe moraliſche Wahrheit habe zum Grun- de legen wollen: Die Mishelligkeit iſt verderblich, die Ein- tracht aber uͤberaus zutraͤglich? Und dieſes iſt die Zergliede- rung des erſten Homeriſchen Helden-Gedichtes, ſo wie ſie von den ſcharfſinnigſten Criticis, nehmlich dem Ariſtoteles, Pa- ter le Boſſu, und Dacier vorlaͤngſt gemacht worden.
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[539/0567]
Von der Epope oder dem Helden-Gedichte.
vier und zwantzig Buͤchern eine Fabel, die etwa ſieben und
vierzig Tage in ihrem Umfange begreift, und alſo nur ein ſehr
kleines Stuͤcke des zehnjaͤhrigen Trojaniſchen Krieges aus-
macht. Der Poet erzehlt uns darinn auf eine ſehr edle Art,
was zu der Uneinigkeit des Achilles mit dem Agememnon Ge-
legenheit gegeben; nehmlich eine ſchoͤne Sclavin, die Aga-
memnon dem Achilles mit Gewalt wegnehmen laſſen: ferner
wie offt die Griechen zuruͤcke geſchlagen worden, und wie viel
wackere Helden ſie daruͤber eingebuͤſſet, als ſie ſich unterſtan-
den, auch ohne den Achilles die Stadt anzugreifen. End-
lich, wie Achilles ſelbſt durch den Verluſt ſeines liebſten
Freundes Patroclus, den Hector erſchlagen hatte, dergeſtalt
entruͤſtet worden, daß er, dieſen Tod zu raͤchen, ſich wieder
mit den Seinen verſoͤhnet, und den beſten Trojaniſchen Hel-
den, eben den Hector in einem einzelnen Gefechte erlegt, ſei-
nem todten Freunde aber ein praͤchtiges Leichen-Begaͤng-
niß angeſtellet.
Man ſieht alſo wohl, mit was vor einer Geſchicklichkeit
Homer ſeine Fabel zum Lobe Achillis eingerichtet. Seine
Abweſenheit und Enthaltung aus der Armee macht das gan-
tze Griechiſche Heer ohnmaͤchtig, und ſeine Wiederkunft
bringt auch den Sieg wieder. Wenn er alſo gleich die groͤſte
Zeit muͤßig ſitzet, und der Poet nichts von ihm erzehlen kan,
ſo gereichet doch alles was geſchieht, zu ſeinem Lobe: weil es
ungluͤcklich geht, und die Urſache keine andre iſt; als weil er
nicht mit fechten will. Die Uneinigkeit der griechiſchen Hel-
den zieht alſo in ihrem Lager lauter Ungluͤck nach ſich; die Ver-
einigung aber ſo zuletzt erfolgt, bringt einen erwuͤnſchten Er-
folg, nehmlich den Sieg uͤber die Trojaner zuwege. Wer
kan bey dem allen noch zweifeln, ob auch Homerus in ſeinem
gantzen Gedichte dieſe moraliſche Wahrheit habe zum Grun-
de legen wollen: Die Mishelligkeit iſt verderblich, die Ein-
tracht aber uͤberaus zutraͤglich? Und dieſes iſt die Zergliede-
rung des erſten Homeriſchen Helden-Gedichtes, ſo wie ſie von
den ſcharfſinnigſten Criticis, nehmlich dem Ariſtoteles, Pa-
ter le Boſſu, und Dacier vorlaͤngſt gemacht worden.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/567>, abgerufen am 23.07.2024.
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