Mit deiner Musen-Schaar; laß ihre Hand mich leiten Auf dieser neuen Bahn, so will ich sicher schreiten Wohin mein Geist mich trägt.
Jndessen wenn man ihn entschuldigen will, darf man nur sa- gen, daß gleichwohl die Form des gantzen Werckes poetisch sey, und also des Beystandes der Musen nicht entbehren kön- ne. Jn seinem Vielgut macht er seine Anruffung gerade zu an GOtt selbst:
So komm, o höchstes Gut, du Ursprung guter Sachen, Des Bösen ärgster Feind, erwecke mir Verstand; Verleyhe kecken Muth, und schärfe meine Hand Zu dringen durch den Neid des Volckes auf der Erden, Das sonst mit seiner Schaar mein Meister möchte werden, Und Wahrheit kaum verträgt.
Eben das hat er in den Büchern der Trost-Gedichte gethan, wo er sich den heiligen Geist, als den höchsten Trost der Welt zum Helfer und Beystande erbittet. Wie nun hieran nichts auszusetzen ist: also ist es auch nicht allezeit nöthig, dergleichen Anruffung zu machen. Horatz und Boileau haben in ihrer Dicht-Kunst keine. Opitz in seinem Buche von Ruhe des Gemüths, auch nicht; ob es gleich eben so groß ist, als eins von den vorhergehenden.
Was vor Verse man zu solchen dogmatischen Gedichten brauchen solle, können die Exempel der Alten und Neuern leh- ren. Jene haben die Alexandrinischen dazu vor geschickt ge- halten, und Opitz hat die langen Jambischen dazu bequem gefunden. Und in der That schicken sich zu einem langen Lehr-Buche keine kurtze Verse. Corneille hat dieses wohl gewust, daher hat er den Thomas von Kempis durchgehends in einerley zwölff- und dreyzehnsylbigte Verse, nicht aber in andre Arten derselben gebracht. Und es wäre zu wünschen, daß man es bey uns auch gethan hätte; da hingegen die eine, so wir davon haben, bald aus Elegien, bald aus heroischen, bald aus trochäischen Versen besteht; die andre aber, so nicht längst heraus gekommen, gar wie ein Gesang-Buch aussieht. Wenn jemand Zeit und Lust hätte, ein solches dogmatisches Werck in unsre Sprache zu übersetzen, der dürfte nur den Palingenium dazu wehlen, welcher in dieser
Classe
Des II Theils VIII Capitel
Mit deiner Muſen-Schaar; laß ihre Hand mich leiten Auf dieſer neuen Bahn, ſo will ich ſicher ſchreiten Wohin mein Geiſt mich traͤgt.
Jndeſſen wenn man ihn entſchuldigen will, darf man nur ſa- gen, daß gleichwohl die Form des gantzen Werckes poetiſch ſey, und alſo des Beyſtandes der Muſen nicht entbehren koͤn- ne. Jn ſeinem Vielgut macht er ſeine Anruffung gerade zu an GOtt ſelbſt:
So komm, o hoͤchſtes Gut, du Urſprung guter Sachen, Des Boͤſen aͤrgſter Feind, erwecke mir Verſtand; Verleyhe kecken Muth, und ſchaͤrfe meine Hand Zu dringen durch den Neid des Volckes auf der Erden, Das ſonſt mit ſeiner Schaar mein Meiſter moͤchte werden, Und Wahrheit kaum vertraͤgt.
Eben das hat er in den Buͤchern der Troſt-Gedichte gethan, wo er ſich den heiligen Geiſt, als den hoͤchſten Troſt der Welt zum Helfer und Beyſtande erbittet. Wie nun hieran nichts auszuſetzen iſt: alſo iſt es auch nicht allezeit noͤthig, dergleichen Anruffung zu machen. Horatz und Boileau haben in ihrer Dicht-Kunſt keine. Opitz in ſeinem Buche von Ruhe des Gemuͤths, auch nicht; ob es gleich eben ſo groß iſt, als eins von den vorhergehenden.
Was vor Verſe man zu ſolchen dogmatiſchen Gedichten brauchen ſolle, koͤnnen die Exempel der Alten und Neuern leh- ren. Jene haben die Alexandriniſchen dazu vor geſchickt ge- halten, und Opitz hat die langen Jambiſchen dazu bequem gefunden. Und in der That ſchicken ſich zu einem langen Lehr-Buche keine kurtze Verſe. Corneille hat dieſes wohl gewuſt, daher hat er den Thomas von Kempis durchgehends in einerley zwoͤlff- und dreyzehnſylbigte Verſe, nicht aber in andre Arten derſelben gebracht. Und es waͤre zu wuͤnſchen, daß man es bey uns auch gethan haͤtte; da hingegen die eine, ſo wir davon haben, bald aus Elegien, bald aus heroiſchen, bald aus trochaͤiſchen Verſen beſteht; die andre aber, ſo nicht laͤngſt heraus gekommen, gar wie ein Geſang-Buch ausſieht. Wenn jemand Zeit und Luſt haͤtte, ein ſolches dogmatiſches Werck in unſre Sprache zu uͤberſetzen, der duͤrfte nur den Palingenium dazu wehlen, welcher in dieſer
Claſſe
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[518/0546]
Des II Theils VIII Capitel
Mit deiner Muſen-Schaar; laß ihre Hand mich leiten
Auf dieſer neuen Bahn, ſo will ich ſicher ſchreiten
Wohin mein Geiſt mich traͤgt.
Jndeſſen wenn man ihn entſchuldigen will, darf man nur ſa-
gen, daß gleichwohl die Form des gantzen Werckes poetiſch
ſey, und alſo des Beyſtandes der Muſen nicht entbehren koͤn-
ne. Jn ſeinem Vielgut macht er ſeine Anruffung gerade zu
an GOtt ſelbſt:
So komm, o hoͤchſtes Gut, du Urſprung guter Sachen,
Des Boͤſen aͤrgſter Feind, erwecke mir Verſtand;
Verleyhe kecken Muth, und ſchaͤrfe meine Hand
Zu dringen durch den Neid des Volckes auf der Erden,
Das ſonſt mit ſeiner Schaar mein Meiſter moͤchte werden,
Und Wahrheit kaum vertraͤgt.
Eben das hat er in den Buͤchern der Troſt-Gedichte gethan,
wo er ſich den heiligen Geiſt, als den hoͤchſten Troſt der Welt
zum Helfer und Beyſtande erbittet. Wie nun hieran nichts
auszuſetzen iſt: alſo iſt es auch nicht allezeit noͤthig, dergleichen
Anruffung zu machen. Horatz und Boileau haben in ihrer
Dicht-Kunſt keine. Opitz in ſeinem Buche von Ruhe des
Gemuͤths, auch nicht; ob es gleich eben ſo groß iſt, als eins
von den vorhergehenden.
Was vor Verſe man zu ſolchen dogmatiſchen Gedichten
brauchen ſolle, koͤnnen die Exempel der Alten und Neuern leh-
ren. Jene haben die Alexandriniſchen dazu vor geſchickt ge-
halten, und Opitz hat die langen Jambiſchen dazu bequem
gefunden. Und in der That ſchicken ſich zu einem langen
Lehr-Buche keine kurtze Verſe. Corneille hat dieſes wohl
gewuſt, daher hat er den Thomas von Kempis durchgehends
in einerley zwoͤlff- und dreyzehnſylbigte Verſe, nicht aber in
andre Arten derſelben gebracht. Und es waͤre zu wuͤnſchen,
daß man es bey uns auch gethan haͤtte; da hingegen die eine, ſo
wir davon haben, bald aus Elegien, bald aus heroiſchen,
bald aus trochaͤiſchen Verſen beſteht; die andre aber, ſo
nicht laͤngſt heraus gekommen, gar wie ein Geſang-Buch
ausſieht. Wenn jemand Zeit und Luſt haͤtte, ein ſolches
dogmatiſches Werck in unſre Sprache zu uͤberſetzen, der
duͤrfte nur den Palingenium dazu wehlen, welcher in dieſer
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/546>, abgerufen am 25.11.2024.
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