Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Des II Theils VIII Capitel
Mit deiner Musen-Schaar; laß ihre Hand mich leiten
Auf dieser neuen Bahn, so will ich sicher schreiten
Wohin mein Geist mich trägt.

Jndessen wenn man ihn entschuldigen will, darf man nur sa-
gen, daß gleichwohl die Form des gantzen Werckes poetisch
sey, und also des Beystandes der Musen nicht entbehren kön-
ne. Jn seinem Vielgut macht er seine Anruffung gerade zu
an GOtt selbst:

So komm, o höchstes Gut, du Ursprung guter Sachen,
Des Bösen ärgster Feind, erwecke mir Verstand;
Verleyhe kecken Muth, und schärfe meine Hand
Zu dringen durch den Neid des Volckes auf der Erden,
Das sonst mit seiner Schaar mein Meister möchte werden,
Und Wahrheit kaum verträgt.

Eben das hat er in den Büchern der Trost-Gedichte gethan,
wo er sich den heiligen Geist, als den höchsten Trost der Welt
zum Helfer und Beystande erbittet. Wie nun hieran nichts
auszusetzen ist: also ist es auch nicht allezeit nöthig, dergleichen
Anruffung zu machen. Horatz und Boileau haben in ihrer
Dicht-Kunst keine. Opitz in seinem Buche von Ruhe des
Gemüths, auch nicht; ob es gleich eben so groß ist, als eins
von den vorhergehenden.

Was vor Verse man zu solchen dogmatischen Gedichten
brauchen solle, können die Exempel der Alten und Neuern leh-
ren. Jene haben die Alexandrinischen dazu vor geschickt ge-
halten, und Opitz hat die langen Jambischen dazu bequem
gefunden. Und in der That schicken sich zu einem langen
Lehr-Buche keine kurtze Verse. Corneille hat dieses wohl
gewust, daher hat er den Thomas von Kempis durchgehends
in einerley zwölff- und dreyzehnsylbigte Verse, nicht aber in
andre Arten derselben gebracht. Und es wäre zu wünschen,
daß man es bey uns auch gethan hätte; da hingegen die eine, so
wir davon haben, bald aus Elegien, bald aus heroischen,
bald aus trochäischen Versen besteht; die andre aber, so
nicht längst heraus gekommen, gar wie ein Gesang-Buch
aussieht. Wenn jemand Zeit und Lust hätte, ein solches
dogmatisches Werck in unsre Sprache zu übersetzen, der
dürfte nur den Palingenium dazu wehlen, welcher in dieser

Classe
Des II Theils VIII Capitel
Mit deiner Muſen-Schaar; laß ihre Hand mich leiten
Auf dieſer neuen Bahn, ſo will ich ſicher ſchreiten
Wohin mein Geiſt mich traͤgt.

Jndeſſen wenn man ihn entſchuldigen will, darf man nur ſa-
gen, daß gleichwohl die Form des gantzen Werckes poetiſch
ſey, und alſo des Beyſtandes der Muſen nicht entbehren koͤn-
ne. Jn ſeinem Vielgut macht er ſeine Anruffung gerade zu
an GOtt ſelbſt:

So komm, o hoͤchſtes Gut, du Urſprung guter Sachen,
Des Boͤſen aͤrgſter Feind, erwecke mir Verſtand;
Verleyhe kecken Muth, und ſchaͤrfe meine Hand
Zu dringen durch den Neid des Volckes auf der Erden,
Das ſonſt mit ſeiner Schaar mein Meiſter moͤchte werden,
Und Wahrheit kaum vertraͤgt.

Eben das hat er in den Buͤchern der Troſt-Gedichte gethan,
wo er ſich den heiligen Geiſt, als den hoͤchſten Troſt der Welt
zum Helfer und Beyſtande erbittet. Wie nun hieran nichts
auszuſetzen iſt: alſo iſt es auch nicht allezeit noͤthig, dergleichen
Anruffung zu machen. Horatz und Boileau haben in ihrer
Dicht-Kunſt keine. Opitz in ſeinem Buche von Ruhe des
Gemuͤths, auch nicht; ob es gleich eben ſo groß iſt, als eins
von den vorhergehenden.

Was vor Verſe man zu ſolchen dogmatiſchen Gedichten
brauchen ſolle, koͤnnen die Exempel der Alten und Neuern leh-
ren. Jene haben die Alexandriniſchen dazu vor geſchickt ge-
halten, und Opitz hat die langen Jambiſchen dazu bequem
gefunden. Und in der That ſchicken ſich zu einem langen
Lehr-Buche keine kurtze Verſe. Corneille hat dieſes wohl
gewuſt, daher hat er den Thomas von Kempis durchgehends
in einerley zwoͤlff- und dreyzehnſylbigte Verſe, nicht aber in
andre Arten derſelben gebracht. Und es waͤre zu wuͤnſchen,
daß man es bey uns auch gethan haͤtte; da hingegen die eine, ſo
wir davon haben, bald aus Elegien, bald aus heroiſchen,
bald aus trochaͤiſchen Verſen beſteht; die andre aber, ſo
nicht laͤngſt heraus gekommen, gar wie ein Geſang-Buch
ausſieht. Wenn jemand Zeit und Luſt haͤtte, ein ſolches
dogmatiſches Werck in unſre Sprache zu uͤberſetzen, der
duͤrfte nur den Palingenium dazu wehlen, welcher in dieſer

Claſſe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <cit>
            <quote><pb facs="#f0546" n="518"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">VIII</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
Mit deiner Mu&#x017F;en-Schaar; laß ihre Hand mich leiten<lb/>
Auf die&#x017F;er neuen Bahn, &#x017F;o will ich &#x017F;icher &#x017F;chreiten<lb/>
Wohin mein Gei&#x017F;t mich tra&#x0364;gt.</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Jnde&#x017F;&#x017F;en wenn man ihn ent&#x017F;chuldigen will, darf man nur &#x017F;a-<lb/>
gen, daß gleichwohl die Form des gantzen Werckes poeti&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;ey, und al&#x017F;o des Bey&#x017F;tandes der Mu&#x017F;en nicht entbehren ko&#x0364;n-<lb/>
ne. Jn &#x017F;einem Vielgut macht er &#x017F;eine Anruffung gerade zu<lb/>
an GOtt &#x017F;elb&#x017F;t:</p><lb/>
          <cit>
            <quote>So komm, o ho&#x0364;ch&#x017F;tes Gut, du Ur&#x017F;prung guter Sachen,<lb/>
Des Bo&#x0364;&#x017F;en a&#x0364;rg&#x017F;ter Feind, erwecke mir Ver&#x017F;tand;<lb/>
Verleyhe kecken Muth, und &#x017F;cha&#x0364;rfe meine Hand<lb/>
Zu dringen durch den Neid des Volckes auf der Erden,<lb/>
Das &#x017F;on&#x017F;t mit &#x017F;einer Schaar mein Mei&#x017F;ter mo&#x0364;chte werden,<lb/>
Und Wahrheit kaum vertra&#x0364;gt.</quote>
          </cit><lb/>
          <p>Eben das hat er in den Bu&#x0364;chern der Tro&#x017F;t-Gedichte gethan,<lb/>
wo er &#x017F;ich den heiligen Gei&#x017F;t, als den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Tro&#x017F;t der Welt<lb/>
zum Helfer und Bey&#x017F;tande erbittet. Wie nun hieran nichts<lb/>
auszu&#x017F;etzen i&#x017F;t: al&#x017F;o i&#x017F;t es auch nicht allezeit no&#x0364;thig, dergleichen<lb/>
Anruffung zu machen. Horatz und Boileau haben in ihrer<lb/>
Dicht-Kun&#x017F;t keine. Opitz in &#x017F;einem Buche von Ruhe des<lb/>
Gemu&#x0364;ths, auch nicht; ob es gleich eben &#x017F;o groß i&#x017F;t, als eins<lb/>
von den vorhergehenden.</p><lb/>
          <p>Was vor Ver&#x017F;e man zu &#x017F;olchen dogmati&#x017F;chen Gedichten<lb/>
brauchen &#x017F;olle, ko&#x0364;nnen die Exempel der Alten und Neuern leh-<lb/>
ren. Jene haben die Alexandrini&#x017F;chen dazu vor ge&#x017F;chickt ge-<lb/>
halten, und Opitz hat die langen Jambi&#x017F;chen dazu bequem<lb/>
gefunden. Und in der That &#x017F;chicken &#x017F;ich zu einem langen<lb/>
Lehr-Buche keine kurtze Ver&#x017F;e. Corneille hat die&#x017F;es wohl<lb/>
gewu&#x017F;t, daher hat er den Thomas von Kempis durchgehends<lb/>
in einerley zwo&#x0364;lff- und dreyzehn&#x017F;ylbigte Ver&#x017F;e, nicht aber in<lb/>
andre Arten der&#x017F;elben gebracht. Und es wa&#x0364;re zu wu&#x0364;n&#x017F;chen,<lb/>
daß man es bey uns auch gethan ha&#x0364;tte; da hingegen die eine, &#x017F;o<lb/>
wir davon haben, bald aus Elegien, bald aus heroi&#x017F;chen,<lb/>
bald aus trocha&#x0364;i&#x017F;chen Ver&#x017F;en be&#x017F;teht; die andre aber, &#x017F;o<lb/>
nicht la&#x0364;ng&#x017F;t heraus gekommen, gar wie ein Ge&#x017F;ang-Buch<lb/>
aus&#x017F;ieht. Wenn jemand Zeit und Lu&#x017F;t ha&#x0364;tte, ein &#x017F;olches<lb/>
dogmati&#x017F;ches Werck in un&#x017F;re Sprache zu u&#x0364;ber&#x017F;etzen, der<lb/>
du&#x0364;rfte nur den Palingenium dazu wehlen, welcher in die&#x017F;er<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Cla&#x017F;&#x017F;e</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[518/0546] Des II Theils VIII Capitel Mit deiner Muſen-Schaar; laß ihre Hand mich leiten Auf dieſer neuen Bahn, ſo will ich ſicher ſchreiten Wohin mein Geiſt mich traͤgt. Jndeſſen wenn man ihn entſchuldigen will, darf man nur ſa- gen, daß gleichwohl die Form des gantzen Werckes poetiſch ſey, und alſo des Beyſtandes der Muſen nicht entbehren koͤn- ne. Jn ſeinem Vielgut macht er ſeine Anruffung gerade zu an GOtt ſelbſt: So komm, o hoͤchſtes Gut, du Urſprung guter Sachen, Des Boͤſen aͤrgſter Feind, erwecke mir Verſtand; Verleyhe kecken Muth, und ſchaͤrfe meine Hand Zu dringen durch den Neid des Volckes auf der Erden, Das ſonſt mit ſeiner Schaar mein Meiſter moͤchte werden, Und Wahrheit kaum vertraͤgt. Eben das hat er in den Buͤchern der Troſt-Gedichte gethan, wo er ſich den heiligen Geiſt, als den hoͤchſten Troſt der Welt zum Helfer und Beyſtande erbittet. Wie nun hieran nichts auszuſetzen iſt: alſo iſt es auch nicht allezeit noͤthig, dergleichen Anruffung zu machen. Horatz und Boileau haben in ihrer Dicht-Kunſt keine. Opitz in ſeinem Buche von Ruhe des Gemuͤths, auch nicht; ob es gleich eben ſo groß iſt, als eins von den vorhergehenden. Was vor Verſe man zu ſolchen dogmatiſchen Gedichten brauchen ſolle, koͤnnen die Exempel der Alten und Neuern leh- ren. Jene haben die Alexandriniſchen dazu vor geſchickt ge- halten, und Opitz hat die langen Jambiſchen dazu bequem gefunden. Und in der That ſchicken ſich zu einem langen Lehr-Buche keine kurtze Verſe. Corneille hat dieſes wohl gewuſt, daher hat er den Thomas von Kempis durchgehends in einerley zwoͤlff- und dreyzehnſylbigte Verſe, nicht aber in andre Arten derſelben gebracht. Und es waͤre zu wuͤnſchen, daß man es bey uns auch gethan haͤtte; da hingegen die eine, ſo wir davon haben, bald aus Elegien, bald aus heroiſchen, bald aus trochaͤiſchen Verſen beſteht; die andre aber, ſo nicht laͤngſt heraus gekommen, gar wie ein Geſang-Buch ausſieht. Wenn jemand Zeit und Luſt haͤtte, ein ſolches dogmatiſches Werck in unſre Sprache zu uͤberſetzen, der duͤrfte nur den Palingenium dazu wehlen, welcher in dieſer Claſſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/546
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/546>, abgerufen am 25.11.2024.