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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils VIII Capitel
gen lesen könne. Da nun auch die bittersten Wahrheiten,
sonderlich in moralischen Sachen, auf solche Art gleichsam
verzuckert und übergüldet werden: so sieht man wohl, daß es
nicht undienlich sey dergleichen Schrifften zu verfertigen; und
also das Erkänntniß und die Tugend der Welt gleichsam
spielend beyzubringen.

Es versteht sich aber von sich selbst, daß ein solch dogma-
tisches Gedichte entweder den gantzen Jnbegriff einer Kunst
oder Wissenschafft, oder nur eintzelne dahin gehörig Mate-
rien abhandeln könne. Jenes haben die meisten obberührten
Alten; dieses aber unser Opitz gethan. Jn beyden Fällen
setzet man zum Grunde, daß der Poet die Sache wohl verste-
he, und sich nicht unterfange etwas auszuführen, dem er nicht
gewachsen ist. Denn hier gilt auch insonderheit, was Ho-
ratz von allen Poeten fordert.

Sumite materiam vestris qui scribitis aequam
Viribus, & versate diu quid ferre recusent,
Quid valeant humeri.

Denn sich zum Lehrer aufwerfen, in Dingen die man nicht
versteht, würde in der Poesie eben so schändlich seyn, als an-
derwerts. Die Wahrheit und Tugend muß wie allezeit,
also auch hier der einzige Augenmerck eines Poeten seyn: und
es wäre zu wünschen, daß Ovidius philosophisch genug gesin-
net gewesen wäre, so würde er seine Artem amandi nicht ge-
schrieben haben. Diese seine Schrifft gehört sonst auch hie-
her, uud er hat sich darinn bemüht, eine ohnedem gar zu liebli-
che Sache durch seine angenehme Schreib-Art noch beliebter
zu machen; das ist, ein schädliches Gifft zu überzuckern. Er
scheint solches nach der Zeit selbst bereuet zu haben, da er auf
eben die Art remedia amoris geschrieben, die gewiß mit glei-
chem Nutzen als Verguügen gelesen werden können. Viel
vernünftiger hat unser Opitz in seinen dogmatischen Poesien
gehandelt. Er zeiget überall eine philosophische Stärcke der
Vernunft, einen grossen Eifer vor alles Gute, ein gesetztes
männliches Hertz, so die Eitelkeiten der menschlichen Dinge
verachtet, und den hohen Adel der Weisheit und Tugend al-
lein hochschätzet. Sonderlich wären sein Vielgut, Zlatna

und

Des II Theils VIII Capitel
gen leſen koͤnne. Da nun auch die bitterſten Wahrheiten,
ſonderlich in moraliſchen Sachen, auf ſolche Art gleichſam
verzuckert und uͤberguͤldet werden: ſo ſieht man wohl, daß es
nicht undienlich ſey dergleichen Schrifften zu verfertigen; und
alſo das Erkaͤnntniß und die Tugend der Welt gleichſam
ſpielend beyzubringen.

Es verſteht ſich aber von ſich ſelbſt, daß ein ſolch dogma-
tiſches Gedichte entweder den gantzen Jnbegriff einer Kunſt
oder Wiſſenſchafft, oder nur eintzelne dahin gehoͤrig Mate-
rien abhandeln koͤnne. Jenes haben die meiſten obberuͤhrten
Alten; dieſes aber unſer Opitz gethan. Jn beyden Faͤllen
ſetzet man zum Grunde, daß der Poet die Sache wohl verſte-
he, und ſich nicht unterfange etwas auszufuͤhren, dem er nicht
gewachſen iſt. Denn hier gilt auch inſonderheit, was Ho-
ratz von allen Poeten fordert.

Sumite materiam veſtris qui ſcribitis aequam
Viribus, & verſate diu quid ferre recuſent,
Quid valeant humeri.

Denn ſich zum Lehrer aufwerfen, in Dingen die man nicht
verſteht, wuͤrde in der Poeſie eben ſo ſchaͤndlich ſeyn, als an-
derwerts. Die Wahrheit und Tugend muß wie allezeit,
alſo auch hier der einzige Augenmerck eines Poeten ſeyn: und
es waͤre zu wuͤnſchen, daß Ovidius philoſophiſch genug geſin-
net geweſen waͤre, ſo wuͤrde er ſeine Artem amandi nicht ge-
ſchrieben haben. Dieſe ſeine Schrifft gehoͤrt ſonſt auch hie-
her, uud er hat ſich darinn bemuͤht, eine ohnedem gar zu liebli-
che Sache durch ſeine angenehme Schreib-Art noch beliebter
zu machen; das iſt, ein ſchaͤdliches Gifft zu uͤberzuckern. Er
ſcheint ſolches nach der Zeit ſelbſt bereuet zu haben, da er auf
eben die Art remedia amoris geſchrieben, die gewiß mit glei-
chem Nutzen als Verguuͤgen geleſen werden koͤnnen. Viel
vernuͤnftiger hat unſer Opitz in ſeinen dogmatiſchen Poeſien
gehandelt. Er zeiget uͤberall eine philoſophiſche Staͤrcke der
Vernunft, einen groſſen Eifer vor alles Gute, ein geſetztes
maͤnnliches Hertz, ſo die Eitelkeiten der menſchlichen Dinge
verachtet, und den hohen Adel der Weisheit und Tugend al-
lein hochſchaͤtzet. Sonderlich waͤren ſein Vielgut, Zlatna

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[516/0544] Des II Theils VIII Capitel gen leſen koͤnne. Da nun auch die bitterſten Wahrheiten, ſonderlich in moraliſchen Sachen, auf ſolche Art gleichſam verzuckert und uͤberguͤldet werden: ſo ſieht man wohl, daß es nicht undienlich ſey dergleichen Schrifften zu verfertigen; und alſo das Erkaͤnntniß und die Tugend der Welt gleichſam ſpielend beyzubringen. Es verſteht ſich aber von ſich ſelbſt, daß ein ſolch dogma- tiſches Gedichte entweder den gantzen Jnbegriff einer Kunſt oder Wiſſenſchafft, oder nur eintzelne dahin gehoͤrig Mate- rien abhandeln koͤnne. Jenes haben die meiſten obberuͤhrten Alten; dieſes aber unſer Opitz gethan. Jn beyden Faͤllen ſetzet man zum Grunde, daß der Poet die Sache wohl verſte- he, und ſich nicht unterfange etwas auszufuͤhren, dem er nicht gewachſen iſt. Denn hier gilt auch inſonderheit, was Ho- ratz von allen Poeten fordert. Sumite materiam veſtris qui ſcribitis aequam Viribus, & verſate diu quid ferre recuſent, Quid valeant humeri. Denn ſich zum Lehrer aufwerfen, in Dingen die man nicht verſteht, wuͤrde in der Poeſie eben ſo ſchaͤndlich ſeyn, als an- derwerts. Die Wahrheit und Tugend muß wie allezeit, alſo auch hier der einzige Augenmerck eines Poeten ſeyn: und es waͤre zu wuͤnſchen, daß Ovidius philoſophiſch genug geſin- net geweſen waͤre, ſo wuͤrde er ſeine Artem amandi nicht ge- ſchrieben haben. Dieſe ſeine Schrifft gehoͤrt ſonſt auch hie- her, uud er hat ſich darinn bemuͤht, eine ohnedem gar zu liebli- che Sache durch ſeine angenehme Schreib-Art noch beliebter zu machen; das iſt, ein ſchaͤdliches Gifft zu uͤberzuckern. Er ſcheint ſolches nach der Zeit ſelbſt bereuet zu haben, da er auf eben die Art remedia amoris geſchrieben, die gewiß mit glei- chem Nutzen als Verguuͤgen geleſen werden koͤnnen. Viel vernuͤnftiger hat unſer Opitz in ſeinen dogmatiſchen Poeſien gehandelt. Er zeiget uͤberall eine philoſophiſche Staͤrcke der Vernunft, einen groſſen Eifer vor alles Gute, ein geſetztes maͤnnliches Hertz, ſo die Eitelkeiten der menſchlichen Dinge verachtet, und den hohen Adel der Weisheit und Tugend al- lein hochſchaͤtzet. Sonderlich waͤren ſein Vielgut, Zlatna und

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/544>, abgerufen am 22.11.2024.