Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Horatius von der Dicht-Kunst. Ein Schauspiel das beliebt und angenehm soll seyn Das theile man genau nur in fünf Actus ein. Man mische keinen GOtt in seiner Helden Thaten, Biß es nicht möglich ist der Wunder zu entrathen. 255Es sprechen auf einmahl nicht mehr als ihrer Drey. Man sorge, daß der Chor zwar mit im Spiele sey, Doch daß sein Singen nicht die Handlung unterbreche, Und er nichts thörichtes, nichts ungeschicktes spreche. Er sey der Tugend hold, er gebe guten Rath 260Und bändige den Zorn. Wer eine Frevelthat Sich scheuet zu begehn, den muß er willig preisen; Er lobt die Mässigkeit, der aufgetragnen Speisen, 252 253 255 256 Liebt 252 Fünf Actus Die Neuern haben zwar zuweilen nur drey gemacht, aber alsdann bekommt jede Handlung gar zu viel Scenen oder Auftritte, so, daß dem Zuschauer Zeit und Weile darüber lang wird. Es ist also besser man bleibe bey dieser Regel Horatii, und folge lieber dem Exempel der alten Griechen nach, als den heutigen Jtalienern: die ohne Zweifel die Urheber der Stücke mit drey Hand- lungen sind. 253 Keinen GOtt. Die alten Tragödienschreiber pflegten zuweilen ohne Noth, die Götter in ihre Fabeln zu mischen: sonderlich wenn sie ihren Helden in solche Umstände hatten gerathen lassen, daß er ohne ein solches Wunder nicht aus oder ein gewust hätte. Dieses verbietet Horatz ohne die höchste Noth nicht zu thun. Es ist auch in der That eine schlechte Kunst, die Verwirrung, darinn man seinen Held gestecket, durch eine göttliche Hülfe zurecht zu bringen. Das heist den Knoten zerschneiden, nicht auflösen. Daher erhellet denn, daß die gröste Schönheit der Opern, die den Pöbel so blendet, ich meyne die Maschinen, nichts als theatralische Fehler sind, zumahl die meisten recht bey den Haaren herzu gezogen werden. 255 Jhrer drey. Dieses ist eine Regel, dawieder fast in allen neuern Theatra- lischen Poesien gehandelt wird. Die Alten hatten gemeiniglich nur zwey, selten drey, und fast niemahls viere auf einmahl mit einander sprechen lassen. Der La- teinische Ausdruck läßt sich auch so erklären, daß die vierdte Person, sich nicht ohne Noth zum Reden dringen solle. Die Franzosen indessen haben zuweilen wohl fünf Personen auf der Schaubühne in einem Auftritte reden lassen. Es ist auch zuwei- len fast unentbehrlich, nur es muß keine Verwirrung dadurch verursachet werden. 256 Der Chor. Das war bey den Alten eine Menge von Leuten die auf der
Schaubühne als Zuschauer der Handlung, die daselbst gespielet ward, vorgestellet wurden. Die Wahrscheinlichkeit erforderte es damahls so. Die Thaten der Kö- nige und Helden giengen fast immer auf öffentlichem Marckte, oder doch auf sol- chen Plätzen vor, wo eine Menge Volcks ihnen zusahe. So musten denn diese auch auf der Schaubühne vorkommen. Die Bürger der Stadt hatten auch mehrentheils an den Handlungen ihrer Könige Theil: daher sagt hier Horatz, der gantze Chor solle auf der Bühne die Stelle einer mitspielenden Person vertreten; das heißt, zu- weilen Horatius von der Dicht-Kunſt. Ein Schauſpiel das beliebt und angenehm ſoll ſeyn Das theile man genau nur in fuͤnf Actus ein. Man miſche keinen GOtt in ſeiner Helden Thaten, Biß es nicht moͤglich iſt der Wunder zu entrathen. 255Es ſprechen auf einmahl nicht mehr als ihrer Drey. Man ſorge, daß der Chor zwar mit im Spiele ſey, Doch daß ſein Singen nicht die Handlung unterbreche, Und er nichts thoͤrichtes, nichts ungeſchicktes ſpreche. Er ſey der Tugend hold, er gebe guten Rath 260Und baͤndige den Zorn. Wer eine Frevelthat Sich ſcheuet zu begehn, den muß er willig preiſen; Er lobt die Maͤſſigkeit, der aufgetragnen Speiſen, 252 253 255 256 Liebt 252 Fünf Actus Die Neuern haben zwar zuweilen nur drey gemacht, aber alsdann bekommt jede Handlung gar zu viel Scenen oder Auftritte, ſo, daß dem Zuſchauer Zeit und Weile daruͤber lang wird. Es iſt alſo beſſer man bleibe bey dieſer Regel Horatii, und folge lieber dem Exempel der alten Griechen nach, als den heutigen Jtalienern: die ohne Zweifel die Urheber der Stuͤcke mit drey Hand- lungen ſind. 253 Keinen GOtt. Die alten Tragoͤdienſchreiber pflegten zuweilen ohne Noth, die Goͤtter in ihre Fabeln zu miſchen: ſonderlich wenn ſie ihren Helden in ſolche Umſtaͤnde hatten gerathen laſſen, daß er ohne ein ſolches Wunder nicht aus oder ein gewuſt haͤtte. Dieſes verbietet Horatz ohne die hoͤchſte Noth nicht zu thun. Es iſt auch in der That eine ſchlechte Kunſt, die Verwirrung, darinn man ſeinen Held geſtecket, durch eine goͤttliche Huͤlfe zurecht zu bringen. Das heiſt den Knoten zerſchneiden, nicht aufloͤſen. Daher erhellet denn, daß die groͤſte Schoͤnheit der Opern, die den Poͤbel ſo blendet, ich meyne die Maſchinen, nichts als theatraliſche Fehler ſind, zumahl die meiſten recht bey den Haaren herzu gezogen werden. 255 Jhrer drey. Dieſes iſt eine Regel, dawieder faſt in allen neuern Theatra- liſchen Poeſien gehandelt wird. Die Alten hatten gemeiniglich nur zwey, ſelten drey, und faſt niemahls viere auf einmahl mit einander ſprechen laſſen. Der La- teiniſche Ausdruck laͤßt ſich auch ſo erklaͤren, daß die vierdte Perſon, ſich nicht ohne Noth zum Reden dringen ſolle. Die Franzoſen indeſſen haben zuweilen wohl fuͤnf Perſonen auf der Schaubuͤhne in einem Auftritte reden laſſen. Es iſt auch zuwei- len faſt unentbehrlich, nur es muß keine Verwirrung dadurch verurſachet werden. 256 Der Chor. Das war bey den Alten eine Menge von Leuten die auf der
Schaubuͤhne als Zuſchauer der Handlung, die daſelbſt geſpielet ward, vorgeſtellet wurden. Die Wahrſcheinlichkeit erforderte es damahls ſo. Die Thaten der Koͤ- nige und Helden giengen faſt immer auf oͤffentlichem Marckte, oder doch auf ſol- chen Plaͤtzen vor, wo eine Menge Volcks ihnen zuſahe. So muſten denn dieſe auch auf der Schaubuͤhne vorkommen. Die Buͤrger der Stadt hatten auch mehrentheils an den Handlungen ihrer Koͤnige Theil: daher ſagt hier Horatz, der gantze Chor ſolle auf der Buͤhne die Stelle einer mitſpielenden Perſon vertreten; das heißt, zu- weilen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0054" n="26"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi> </fw><lb/> <lg n="9"> <l>Ein Schauſpiel das beliebt und angenehm ſoll ſeyn</l><lb/> <l>Das theile man genau nur in fuͤnf Actus ein.</l><lb/> <l>Man miſche keinen GOtt in ſeiner Helden Thaten,</l><lb/> <l>Biß es nicht moͤglich iſt der Wunder zu entrathen.<lb/><note place="left">255</note>Es ſprechen auf einmahl nicht mehr als ihrer Drey.</l><lb/> <l>Man ſorge, daß der Chor zwar mit im Spiele ſey,</l><lb/> <l>Doch daß ſein Singen nicht die Handlung unterbreche,</l><lb/> <l>Und er nichts thoͤrichtes, nichts ungeſchicktes ſpreche.</l><lb/> <l>Er ſey der Tugend hold, er gebe guten Rath<lb/><note place="left">260</note>Und baͤndige den Zorn. Wer eine Frevelthat</l><lb/> <l>Sich ſcheuet zu begehn, den muß er willig preiſen;</l><lb/> <l>Er lobt die Maͤſſigkeit, der aufgetragnen Speiſen,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Liebt</fw><lb/><note place="foot" n="252"><hi rendition="#fr">Fünf Actus</hi> Die Neuern haben zwar zuweilen nur drey gemacht, aber<lb/> alsdann bekommt jede Handlung gar zu viel Scenen oder Auftritte, ſo, daß dem<lb/> Zuſchauer Zeit und Weile daruͤber lang wird. Es iſt alſo beſſer man bleibe bey<lb/> dieſer Regel Horatii, und folge lieber dem Exempel der alten Griechen nach, als<lb/> den heutigen Jtalienern: die ohne Zweifel die Urheber der Stuͤcke mit drey Hand-<lb/> lungen ſind.</note><lb/><note place="foot" n="253"><hi rendition="#fr">Keinen GOtt.</hi> Die alten Tragoͤdienſchreiber pflegten zuweilen ohne<lb/> Noth, die Goͤtter in ihre Fabeln zu miſchen: ſonderlich wenn ſie ihren Helden in<lb/> ſolche Umſtaͤnde hatten gerathen laſſen, daß er ohne ein ſolches Wunder nicht aus<lb/> oder ein gewuſt haͤtte. Dieſes verbietet Horatz ohne die hoͤchſte Noth nicht zu thun.<lb/> Es iſt auch in der That eine ſchlechte Kunſt, die Verwirrung, darinn man ſeinen<lb/> Held geſtecket, durch eine goͤttliche Huͤlfe zurecht zu bringen. Das heiſt den Knoten<lb/> zerſchneiden, nicht aufloͤſen. Daher erhellet denn, daß die groͤſte Schoͤnheit der<lb/> Opern, die den Poͤbel ſo blendet, ich meyne die Maſchinen, nichts als theatraliſche<lb/> Fehler ſind, zumahl die meiſten recht bey den Haaren herzu gezogen werden.</note><lb/><note place="foot" n="255"><hi rendition="#fr">Jhrer drey.</hi> Dieſes iſt eine Regel, dawieder faſt in allen neuern Theatra-<lb/> liſchen Poeſien gehandelt wird. Die Alten hatten gemeiniglich nur zwey, ſelten<lb/> drey, und faſt niemahls viere auf einmahl mit einander ſprechen laſſen. Der La-<lb/> teiniſche Ausdruck laͤßt ſich auch ſo erklaͤren, daß die vierdte Perſon, ſich nicht ohne<lb/> Noth zum Reden dringen ſolle. Die Franzoſen indeſſen haben zuweilen wohl fuͤnf<lb/> Perſonen auf der Schaubuͤhne in einem Auftritte reden laſſen. Es iſt auch zuwei-<lb/> len faſt unentbehrlich, nur es muß keine Verwirrung dadurch verurſachet werden.</note><lb/><note xml:id="f19" next="#f20" place="foot" n="256"><hi rendition="#fr">Der Chor.</hi> Das war bey den Alten eine Menge von Leuten die auf der<lb/> Schaubuͤhne als Zuſchauer der Handlung, die daſelbſt geſpielet ward, vorgeſtellet<lb/> wurden. Die Wahrſcheinlichkeit erforderte es damahls ſo. Die Thaten der Koͤ-<lb/> nige und Helden giengen faſt immer auf oͤffentlichem Marckte, oder doch auf ſol-<lb/> chen Plaͤtzen vor, wo eine Menge Volcks ihnen zuſahe. So muſten denn dieſe auch<lb/> auf der Schaubuͤhne vorkommen. Die Buͤrger der Stadt hatten auch mehrentheils<lb/> an den Handlungen ihrer Koͤnige Theil: daher ſagt hier Horatz, der gantze Chor<lb/> ſolle auf der Buͤhne die Stelle einer mitſpielenden Perſon vertreten; das heißt, zu-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">weilen</fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [26/0054]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Ein Schauſpiel das beliebt und angenehm ſoll ſeyn
Das theile man genau nur in fuͤnf Actus ein.
Man miſche keinen GOtt in ſeiner Helden Thaten,
Biß es nicht moͤglich iſt der Wunder zu entrathen.
Es ſprechen auf einmahl nicht mehr als ihrer Drey.
Man ſorge, daß der Chor zwar mit im Spiele ſey,
Doch daß ſein Singen nicht die Handlung unterbreche,
Und er nichts thoͤrichtes, nichts ungeſchicktes ſpreche.
Er ſey der Tugend hold, er gebe guten Rath
Und baͤndige den Zorn. Wer eine Frevelthat
Sich ſcheuet zu begehn, den muß er willig preiſen;
Er lobt die Maͤſſigkeit, der aufgetragnen Speiſen,
Liebt
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253
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252 Fünf Actus Die Neuern haben zwar zuweilen nur drey gemacht, aber
alsdann bekommt jede Handlung gar zu viel Scenen oder Auftritte, ſo, daß dem
Zuſchauer Zeit und Weile daruͤber lang wird. Es iſt alſo beſſer man bleibe bey
dieſer Regel Horatii, und folge lieber dem Exempel der alten Griechen nach, als
den heutigen Jtalienern: die ohne Zweifel die Urheber der Stuͤcke mit drey Hand-
lungen ſind.
253 Keinen GOtt. Die alten Tragoͤdienſchreiber pflegten zuweilen ohne
Noth, die Goͤtter in ihre Fabeln zu miſchen: ſonderlich wenn ſie ihren Helden in
ſolche Umſtaͤnde hatten gerathen laſſen, daß er ohne ein ſolches Wunder nicht aus
oder ein gewuſt haͤtte. Dieſes verbietet Horatz ohne die hoͤchſte Noth nicht zu thun.
Es iſt auch in der That eine ſchlechte Kunſt, die Verwirrung, darinn man ſeinen
Held geſtecket, durch eine goͤttliche Huͤlfe zurecht zu bringen. Das heiſt den Knoten
zerſchneiden, nicht aufloͤſen. Daher erhellet denn, daß die groͤſte Schoͤnheit der
Opern, die den Poͤbel ſo blendet, ich meyne die Maſchinen, nichts als theatraliſche
Fehler ſind, zumahl die meiſten recht bey den Haaren herzu gezogen werden.
255 Jhrer drey. Dieſes iſt eine Regel, dawieder faſt in allen neuern Theatra-
liſchen Poeſien gehandelt wird. Die Alten hatten gemeiniglich nur zwey, ſelten
drey, und faſt niemahls viere auf einmahl mit einander ſprechen laſſen. Der La-
teiniſche Ausdruck laͤßt ſich auch ſo erklaͤren, daß die vierdte Perſon, ſich nicht ohne
Noth zum Reden dringen ſolle. Die Franzoſen indeſſen haben zuweilen wohl fuͤnf
Perſonen auf der Schaubuͤhne in einem Auftritte reden laſſen. Es iſt auch zuwei-
len faſt unentbehrlich, nur es muß keine Verwirrung dadurch verurſachet werden.
256 Der Chor. Das war bey den Alten eine Menge von Leuten die auf der
Schaubuͤhne als Zuſchauer der Handlung, die daſelbſt geſpielet ward, vorgeſtellet
wurden. Die Wahrſcheinlichkeit erforderte es damahls ſo. Die Thaten der Koͤ-
nige und Helden giengen faſt immer auf oͤffentlichem Marckte, oder doch auf ſol-
chen Plaͤtzen vor, wo eine Menge Volcks ihnen zuſahe. So muſten denn dieſe auch
auf der Schaubuͤhne vorkommen. Die Buͤrger der Stadt hatten auch mehrentheils
an den Handlungen ihrer Koͤnige Theil: daher ſagt hier Horatz, der gantze Chor
ſolle auf der Buͤhne die Stelle einer mitſpielenden Perſon vertreten; das heißt, zu-
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