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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Satiren.

Vergrabe nicht das Pfund, was ich dir anvertraut,
Geuß ferner deinen Zorn den Lastern auf die Haut,
Erhebe dich mit Ernst zum Richter böser Sitten,
Kein Schelten, keine Wuth, kein Flehen, auch kein Bitten,
Sey dir verhinderlich. Ja, sprech ich, ey mein Glück?
Was Glück? erwiederst du, vertraue dem Geschick!
Du kennst den Aretin, du weißt von seinen Schrifften,
Die ihm in aller Welt ein Angedencken stifften.
Das war mein echter Sohn. Sprich selber, fällt dirs bey?
Wo war ein Fürsten-Stuhl von seiner Feder frey?
Nein, er war sonder Furcht und pflegte gar der Kronen,
So sehr ihr Gold sonst blendt, durchaus nicht zu verschonen.
Und dadurch wuchs sein Glück. Von Norden, Ost und West,
Und da wo Phöbus sich des Mittags finden läst,
Empfieng mein Aretin mehr Gaben vor sein schweigen,
Als Schmeichler, die der Welt in falschen Bildern zeigen,
Was mancher weder ist, noch selbst verlangt zu seyn:
So trug sein Tadeln mehr, als itzt das Loben ein.
Dies Beyspiel dient vor dich. Doch findst du was zu loben,
Wohlan! so werde dann die Tugend auch erhoben.
Dies ist dir unverwehrt, denn bleibst du nur gerecht,
Daß du die Thoren toll, die schlechten Verße schlecht,
Die Laster schändlich nennst, so wird dein Lob auf Erden,
Der kräfftigste Beweis der wahren Tugend werden.

Jedoch, ich sehe wohl, auch dies gefällt dir nicht,
Wohl, ich erlasse dich, hinführo deiner Pflicht,
Jch will dich künftighin nicht mehr zum Tadel treiben,
Du sollst, weil du nicht willst, nicht mehr Satiren schreiben.
Verfasse keinen Vers, dadurch des Pöbels Wuth,
Sich wie das Meer erregt. So bleibt die Welt dir gut.
Allein, geliebter Sohn, nur eins ist mein Verlangen,
Man ließt die Dichter nicht, die diese Bahn gegangen,
Man weiß nicht was Horatz und Juvenal gespielt,
Wiewohl die Brut noch lebt, auf die ihr Schertz gezielt.
Komm, zeuch sie aus der Grufft, verdeutsche hin und wieder,
Nachdem es dir gefällt, die besten ihrer Lieder.
Die Arbeit kan der Welt nicht sehr zuwieder seyn,
Die Verße sind entlehnt, die Worte sind nur dein.
Doch wenn man sehen wird, wie thöricht Rom gewesen,
Wird man sein eignes Thun in fremden Nahmen lesen.
Hat Franckreich nicht bereits die Alten übersetzt?
Hat Engelland sie nicht der Arbeit werthgeschätzt?
Liest Welschland sie nicht auch in seinen zarten Reimen?
Wie kommts denn immermehr, daß sich die Teutschen säumen?
Thalia,
H h

Von Satiren.

Vergrabe nicht das Pfund, was ich dir anvertraut,
Geuß ferner deinen Zorn den Laſtern auf die Haut,
Erhebe dich mit Ernſt zum Richter boͤſer Sitten,
Kein Schelten, keine Wuth, kein Flehen, auch kein Bitten,
Sey dir verhinderlich. Ja, ſprech ich, ey mein Gluͤck?
Was Gluͤck? erwiederſt du, vertraue dem Geſchick!
Du kennſt den Aretin, du weißt von ſeinen Schrifften,
Die ihm in aller Welt ein Angedencken ſtifften.
Das war mein echter Sohn. Sprich ſelber, faͤllt dirs bey?
Wo war ein Fuͤrſten-Stuhl von ſeiner Feder frey?
Nein, er war ſonder Furcht und pflegte gar der Kronen,
So ſehr ihr Gold ſonſt blendt, durchaus nicht zu verſchonen.
Und dadurch wuchs ſein Gluͤck. Von Norden, Oſt und Weſt,
Und da wo Phoͤbus ſich des Mittags finden laͤſt,
Empfieng mein Aretin mehr Gaben vor ſein ſchweigen,
Als Schmeichler, die der Welt in falſchen Bildern zeigen,
Was mancher weder iſt, noch ſelbſt verlangt zu ſeyn:
So trug ſein Tadeln mehr, als itzt das Loben ein.
Dies Beyſpiel dient vor dich. Doch findſt du was zu loben,
Wohlan! ſo werde dann die Tugend auch erhoben.
Dies iſt dir unverwehrt, denn bleibſt du nur gerecht,
Daß du die Thoren toll, die ſchlechten Verße ſchlecht,
Die Laſter ſchaͤndlich nennſt, ſo wird dein Lob auf Erden,
Der kraͤfftigſte Beweis der wahren Tugend werden.

Jedoch, ich ſehe wohl, auch dies gefaͤllt dir nicht,
Wohl, ich erlaſſe dich, hinfuͤhro deiner Pflicht,
Jch will dich kuͤnftighin nicht mehr zum Tadel treiben,
Du ſollſt, weil du nicht willſt, nicht mehr Satiren ſchreiben.
Verfaſſe keinen Vers, dadurch des Poͤbels Wuth,
Sich wie das Meer erregt. So bleibt die Welt dir gut.
Allein, geliebter Sohn, nur eins iſt mein Verlangen,
Man ließt die Dichter nicht, die dieſe Bahn gegangen,
Man weiß nicht was Horatz und Juvenal geſpielt,
Wiewohl die Brut noch lebt, auf die ihr Schertz gezielt.
Komm, zeuch ſie aus der Grufft, verdeutſche hin und wieder,
Nachdem es dir gefaͤllt, die beſten ihrer Lieder.
Die Arbeit kan der Welt nicht ſehr zuwieder ſeyn,
Die Verße ſind entlehnt, die Worte ſind nur dein.
Doch wenn man ſehen wird, wie thoͤricht Rom geweſen,
Wird man ſein eignes Thun in fremden Nahmen leſen.
Hat Franckreich nicht bereits die Alten uͤberſetzt?
Hat Engelland ſie nicht der Arbeit werthgeſchaͤtzt?
Lieſt Welſchland ſie nicht auch in ſeinen zarten Reimen?
Wie kommts denn immermehr, daß ſich die Teutſchen ſaͤumen?
Thalia,
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[481/0509] Von Satiren. Vergrabe nicht das Pfund, was ich dir anvertraut, Geuß ferner deinen Zorn den Laſtern auf die Haut, Erhebe dich mit Ernſt zum Richter boͤſer Sitten, Kein Schelten, keine Wuth, kein Flehen, auch kein Bitten, Sey dir verhinderlich. Ja, ſprech ich, ey mein Gluͤck? Was Gluͤck? erwiederſt du, vertraue dem Geſchick! Du kennſt den Aretin, du weißt von ſeinen Schrifften, Die ihm in aller Welt ein Angedencken ſtifften. Das war mein echter Sohn. Sprich ſelber, faͤllt dirs bey? Wo war ein Fuͤrſten-Stuhl von ſeiner Feder frey? Nein, er war ſonder Furcht und pflegte gar der Kronen, So ſehr ihr Gold ſonſt blendt, durchaus nicht zu verſchonen. Und dadurch wuchs ſein Gluͤck. Von Norden, Oſt und Weſt, Und da wo Phoͤbus ſich des Mittags finden laͤſt, Empfieng mein Aretin mehr Gaben vor ſein ſchweigen, Als Schmeichler, die der Welt in falſchen Bildern zeigen, Was mancher weder iſt, noch ſelbſt verlangt zu ſeyn: So trug ſein Tadeln mehr, als itzt das Loben ein. Dies Beyſpiel dient vor dich. Doch findſt du was zu loben, Wohlan! ſo werde dann die Tugend auch erhoben. Dies iſt dir unverwehrt, denn bleibſt du nur gerecht, Daß du die Thoren toll, die ſchlechten Verße ſchlecht, Die Laſter ſchaͤndlich nennſt, ſo wird dein Lob auf Erden, Der kraͤfftigſte Beweis der wahren Tugend werden. Jedoch, ich ſehe wohl, auch dies gefaͤllt dir nicht, Wohl, ich erlaſſe dich, hinfuͤhro deiner Pflicht, Jch will dich kuͤnftighin nicht mehr zum Tadel treiben, Du ſollſt, weil du nicht willſt, nicht mehr Satiren ſchreiben. Verfaſſe keinen Vers, dadurch des Poͤbels Wuth, Sich wie das Meer erregt. So bleibt die Welt dir gut. Allein, geliebter Sohn, nur eins iſt mein Verlangen, Man ließt die Dichter nicht, die dieſe Bahn gegangen, Man weiß nicht was Horatz und Juvenal geſpielt, Wiewohl die Brut noch lebt, auf die ihr Schertz gezielt. Komm, zeuch ſie aus der Grufft, verdeutſche hin und wieder, Nachdem es dir gefaͤllt, die beſten ihrer Lieder. Die Arbeit kan der Welt nicht ſehr zuwieder ſeyn, Die Verße ſind entlehnt, die Worte ſind nur dein. Doch wenn man ſehen wird, wie thoͤricht Rom geweſen, Wird man ſein eignes Thun in fremden Nahmen leſen. Hat Franckreich nicht bereits die Alten uͤberſetzt? Hat Engelland ſie nicht der Arbeit werthgeſchaͤtzt? Lieſt Welſchland ſie nicht auch in ſeinen zarten Reimen? Wie kommts denn immermehr, daß ſich die Teutſchen ſaͤumen? Thalia, H h

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/509>, abgerufen am 22.11.2024.