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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils VI Capitel
Dem Himmel sey gedanckt, der selber mich bewahrt,
Daß meine Jugend nicht, nach eingerißner Art,
Den Lastersteg erwehlt; dem selten wer entgehet,
Weil man darauf geräth, bevor man es verstehet.
Jch hab ihn offt gesehn, ich hab ihn auch begehrt.
Doch hat die Vorsicht stets den ersten Schritt gewehrt;
Des Fußes Trieb gehemmt, der sich, wiewohl mit beben,
Zuweilen schon entschloß, sich auf die Bahn zu heben,
Die zum Verderben trägt. Daß er es nicht gethan,
That meine Tugend nicht. Jch dachte kaum daran!
Allein die Schickung war mir allezeit zuwieder,
Und schlug mir unverhofft den bösen Vorsatz nieder.
Bald hinderte mich dieß, bald fehlte wieder das:
Bald störte mich die Scham, bald war es sonsten was.
Jch wollt, und konnte doch die Lüste nicht erfüllen:
Und war, und blieb ich fromm; so that ichs wieder Willen.
Dafern das frommseyn heißt, wenn man nicht schlimm seyn kan,
Weil uns die Bosheit flieht, darauf das Hertze sann.
Dieß ist mein Lebens-Lauf, ein jeder mag ihn lesen,
Und forschen ob er selbst viel klüger sey gewesen?
Wo war nun dazumahl als ich noch so gelebt,
Die herrschende Vernunft, die man so sehr erhebt?
Was war ich vor ein Mensch, als sich in meinen Brüsten
Nichts anders spüren ließ, als eine Brut von Lüsten?
Von Lüsten, die ein Vieh, ein unvernünftig Thier,
Nicht ärger bey sich fühlt, nicht halb so arg, als wir.
Soll uns nicht die Vernunft die Lebens-Regeln lehren?
Soll ihre Herrschafft nicht die bösen Triebe stören?
Soll sie den Sinnen nicht mit Nachdruck wiederstehn,
Und zeigen, wie man muß zum höchsten Gute gehn,
Wo wir von keinem Gram und Misvergnügen wissen,
Und in Zufriedenheit das gantze Leben schliessen?
Wie that sie das bey mir? Hätt ich nicht manche Nacht,
Und manchen sauren Tag in Büchern zugebracht,
Der Sitten-Lehrer Kunst mit Eifer nachgespüret,
Und durch ein fremdes Licht den eignen Geist regieret;
Hätt ich der Weisheit nicht geduldig nachgestrebt,
Die tausend Regeln giebt, wie man gebührend lebt;
Und hätte sie mir nicht die Tugend jener Alten,
Die man als Helden rühmt, zu Mustern vorgehalten:
Jch wüst die Stunde noch, bey männlich-reifer Zeit,
Sehr wenig von Vernunft, gar nichts von Menschlichkeit;
Und müste mich fürwahr nach Billigkeit bequemen,
Bey wilden Bestien in Wäldern Platz zu nehmen.
Du
Des II Theils VI Capitel
Dem Himmel ſey gedanckt, der ſelber mich bewahrt,
Daß meine Jugend nicht, nach eingerißner Art,
Den Laſterſteg erwehlt; dem ſelten wer entgehet,
Weil man darauf geraͤth, bevor man es verſtehet.
Jch hab ihn offt geſehn, ich hab ihn auch begehrt.
Doch hat die Vorſicht ſtets den erſten Schritt gewehrt;
Des Fußes Trieb gehemmt, der ſich, wiewohl mit beben,
Zuweilen ſchon entſchloß, ſich auf die Bahn zu heben,
Die zum Verderben traͤgt. Daß er es nicht gethan,
That meine Tugend nicht. Jch dachte kaum daran!
Allein die Schickung war mir allezeit zuwieder,
Und ſchlug mir unverhofft den boͤſen Vorſatz nieder.
Bald hinderte mich dieß, bald fehlte wieder das:
Bald ſtoͤrte mich die Scham, bald war es ſonſten was.
Jch wollt, und konnte doch die Luͤſte nicht erfuͤllen:
Und war, und blieb ich fromm; ſo that ichs wieder Willen.
Dafern das frommſeyn heißt, wenn man nicht ſchlimm ſeyn kan,
Weil uns die Bosheit flieht, darauf das Hertze ſann.
Dieß iſt mein Lebens-Lauf, ein jeder mag ihn leſen,
Und forſchen ob er ſelbſt viel kluͤger ſey geweſen?
Wo war nun dazumahl als ich noch ſo gelebt,
Die herrſchende Vernunft, die man ſo ſehr erhebt?
Was war ich vor ein Menſch, als ſich in meinen Bruͤſten
Nichts anders ſpuͤren ließ, als eine Brut von Luͤſten?
Von Luͤſten, die ein Vieh, ein unvernuͤnftig Thier,
Nicht aͤrger bey ſich fuͤhlt, nicht halb ſo arg, als wir.
Soll uns nicht die Vernunft die Lebens-Regeln lehren?
Soll ihre Herrſchafft nicht die boͤſen Triebe ſtoͤren?
Soll ſie den Sinnen nicht mit Nachdruck wiederſtehn,
Und zeigen, wie man muß zum hoͤchſten Gute gehn,
Wo wir von keinem Gram und Misvergnuͤgen wiſſen,
Und in Zufriedenheit das gantze Leben ſchlieſſen?
Wie that ſie das bey mir? Haͤtt ich nicht manche Nacht,
Und manchen ſauren Tag in Buͤchern zugebracht,
Der Sitten-Lehrer Kunſt mit Eifer nachgeſpuͤret,
Und durch ein fremdes Licht den eignen Geiſt regieret;
Haͤtt ich der Weisheit nicht geduldig nachgeſtrebt,
Die tauſend Regeln giebt, wie man gebuͤhrend lebt;
Und haͤtte ſie mir nicht die Tugend jener Alten,
Die man als Helden ruͤhmt, zu Muſtern vorgehalten:
Jch wuͤſt die Stunde noch, bey maͤnnlich-reifer Zeit,
Sehr wenig von Vernunft, gar nichts von Menſchlichkeit;
Und muͤſte mich fuͤrwahr nach Billigkeit bequemen,
Bey wilden Beſtien in Waͤldern Platz zu nehmen.
Du
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[474/0502] Des II Theils VI Capitel Dem Himmel ſey gedanckt, der ſelber mich bewahrt, Daß meine Jugend nicht, nach eingerißner Art, Den Laſterſteg erwehlt; dem ſelten wer entgehet, Weil man darauf geraͤth, bevor man es verſtehet. Jch hab ihn offt geſehn, ich hab ihn auch begehrt. Doch hat die Vorſicht ſtets den erſten Schritt gewehrt; Des Fußes Trieb gehemmt, der ſich, wiewohl mit beben, Zuweilen ſchon entſchloß, ſich auf die Bahn zu heben, Die zum Verderben traͤgt. Daß er es nicht gethan, That meine Tugend nicht. Jch dachte kaum daran! Allein die Schickung war mir allezeit zuwieder, Und ſchlug mir unverhofft den boͤſen Vorſatz nieder. Bald hinderte mich dieß, bald fehlte wieder das: Bald ſtoͤrte mich die Scham, bald war es ſonſten was. Jch wollt, und konnte doch die Luͤſte nicht erfuͤllen: Und war, und blieb ich fromm; ſo that ichs wieder Willen. Dafern das frommſeyn heißt, wenn man nicht ſchlimm ſeyn kan, Weil uns die Bosheit flieht, darauf das Hertze ſann. Dieß iſt mein Lebens-Lauf, ein jeder mag ihn leſen, Und forſchen ob er ſelbſt viel kluͤger ſey geweſen? Wo war nun dazumahl als ich noch ſo gelebt, Die herrſchende Vernunft, die man ſo ſehr erhebt? Was war ich vor ein Menſch, als ſich in meinen Bruͤſten Nichts anders ſpuͤren ließ, als eine Brut von Luͤſten? Von Luͤſten, die ein Vieh, ein unvernuͤnftig Thier, Nicht aͤrger bey ſich fuͤhlt, nicht halb ſo arg, als wir. Soll uns nicht die Vernunft die Lebens-Regeln lehren? Soll ihre Herrſchafft nicht die boͤſen Triebe ſtoͤren? Soll ſie den Sinnen nicht mit Nachdruck wiederſtehn, Und zeigen, wie man muß zum hoͤchſten Gute gehn, Wo wir von keinem Gram und Misvergnuͤgen wiſſen, Und in Zufriedenheit das gantze Leben ſchlieſſen? Wie that ſie das bey mir? Haͤtt ich nicht manche Nacht, Und manchen ſauren Tag in Buͤchern zugebracht, Der Sitten-Lehrer Kunſt mit Eifer nachgeſpuͤret, Und durch ein fremdes Licht den eignen Geiſt regieret; Haͤtt ich der Weisheit nicht geduldig nachgeſtrebt, Die tauſend Regeln giebt, wie man gebuͤhrend lebt; Und haͤtte ſie mir nicht die Tugend jener Alten, Die man als Helden ruͤhmt, zu Muſtern vorgehalten: Jch wuͤſt die Stunde noch, bey maͤnnlich-reifer Zeit, Sehr wenig von Vernunft, gar nichts von Menſchlichkeit; Und muͤſte mich fuͤrwahr nach Billigkeit bequemen, Bey wilden Beſtien in Waͤldern Platz zu nehmen. Du

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/502>, abgerufen am 25.11.2024.