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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Horatius von der Dicht-Kunst
Jch will von Priams Glück u. Helden Thaten singen!
Was wird der Prahler doch vor Wunderwercke bringen!
Er kreißt wie jener Berg, der eine Maus gebahr.
180Wer sieht nicht daß Homer hier viel bescheidner war?
Jhr Musen zeigt mir den, der Trojens Burg bestritten,

Und nach der Teucrer Fall so vieler Völcker Sitten;
So manche Stadt gesehn. Hier folgt das finstre nicht
Auf heller Blitze Glantz; der Schatten zeugt das Licht.
185Er fängt gantz niedrig an, um destomehr zu steigen,

Und wird allmählich schon die grösten Wunder zeigen,
Den Riesen Polyphem, Charybdens Strudel-Mund,
Der Menschen-Fresser Grimm und Scyllens wüsten Schlund.
Den Vortrab wird er nie von weit gesuchten Sachen,
190Zur Rückkunft Diomeds vom Trojer-Kriege machen,

Wo Meleager fiel. Wo fängt der grosse Mann
180
184
190
192
193

Der
Magnanimum AEacidam formidatamque tonanti
Progeniem, & vetitam patrio succedere coelo,
Diua refer! - -.
180 Bescheidner. Die Klugheit lehrte diesen Poeten gantz gelassen anfangen,
und kein groß Geschrey machen, als er seine Odyssee schrieb. Virgil hat es eben so
gemacht. Lucan, Statius und Claudian sind von der rechten Bahn wieder ab-
gewichen. Z. E. Dieser letzte fängt seinen raptum Proserpinae so an:
Inferni raptoris equos, afflataque curru
Sidera Tenario, caligantesque profundae
Junonis thalamos, audaci promere cantu
Mens congesta jubet.
184 Der Schatten zeugt das Licht. Eigentlich der Dampf geht vor dem
Glanze her. Wie der Rauch vor der vollen Flamme entsteht; so muß der Anfang
eines Gedichtes seyn. Nicht aber wie Stoppeln, die gleich lichterlohe brennen,
aber auch gleich wieder verlöschen.
190 Diomeds. Antimachus, ein griechischer Poet, hatte von der Rückreise
Diomedis ein Gedichte geschrieben, und den Anfang dazu vom Tode Meleagers
vor Troja, gemacht, der doch gar nicht dazu gehörte.
192 Von Ledens Eyern an. Der Urheber der kleinen Jlias hatte sich vorge-
nommen, den gantzen Trojanischen Krieg zu besingen; davon Homer nur einen
kleinen Theil in seinem Gedichte beschrieben hat. Er fieng aber die gantze Fabel
von forne an, wie nehmlich Helena nebst dem Castor und Pollux gebohren wäre:
weil der Raub dieser Prinzeßin die Ursache des gantzen Krieges gewesen. Das war
nun viel zu weit hergeholt.
193 Dem Zwecke zu. Ein jedes Helden-Gedicht hat seinen Hauptzweck oder
Absicht.

Horatius von der Dicht-Kunſt
Jch will von Priams Gluͤck u. Helden Thaten ſingen!
Was wird der Prahler doch vor Wunderwercke bringen!
Er kreißt wie jener Berg, der eine Maus gebahr.
180Wer ſieht nicht daß Homer hier viel beſcheidner war?
Jhr Muſen zeigt mir den, der Trojens Burg beſtritten,

Und nach der Teucrer Fall ſo vieler Voͤlcker Sitten;
So manche Stadt geſehn. Hier folgt das finſtre nicht
Auf heller Blitze Glantz; der Schatten zeugt das Licht.
185Er faͤngt gantz niedrig an, um deſtomehr zu ſteigen,

Und wird allmaͤhlich ſchon die groͤſten Wunder zeigen,
Den Rieſen Polyphem, Charybdens Strudel-Mund,
Der Menſchen-Freſſer Grimm und Scyllens wuͤſten Schlund.
Den Vortrab wird er nie von weit geſuchten Sachen,
190Zur Ruͤckkunft Diomeds vom Trojer-Kriege machen,

Wo Meleager fiel. Wo faͤngt der groſſe Mann
180
184
190
192
193

Der
Magnanimum Æacidam formidatamque tonanti
Progeniem, & vetitam patrio ſuccedere cœlo,
Diua refer! ‒ ‒.
180 Beſcheidner. Die Klugheit lehrte dieſen Poeten gantz gelaſſen anfangen,
und kein groß Geſchrey machen, als er ſeine Odyſſee ſchrieb. Virgil hat es eben ſo
gemacht. Lucan, Statius und Claudian ſind von der rechten Bahn wieder ab-
gewichen. Z. E. Dieſer letzte faͤngt ſeinen raptum Proſerpinae ſo an:
Inferni raptoris equos, afflataque curru
Sidera Tenario, caligantesque profundae
Junonis thalamos, audaci promere cantu
Mens congeſta jubet.
184 Der Schatten zeugt das Licht. Eigentlich der Dampf geht vor dem
Glanze her. Wie der Rauch vor der vollen Flamme entſteht; ſo muß der Anfang
eines Gedichtes ſeyn. Nicht aber wie Stoppeln, die gleich lichterlohe brennen,
aber auch gleich wieder verloͤſchen.
190 Diomeds. Antimachus, ein griechiſcher Poet, hatte von der Ruͤckreiſe
Diomedis ein Gedichte geſchrieben, und den Anfang dazu vom Tode Meleagers
vor Troja, gemacht, der doch gar nicht dazu gehoͤrte.
192 Von Ledens Eyern an. Der Urheber der kleinen Jlias hatte ſich vorge-
nommen, den gantzen Trojaniſchen Krieg zu beſingen; davon Homer nur einen
kleinen Theil in ſeinem Gedichte beſchrieben hat. Er fieng aber die gantze Fabel
von forne an, wie nehmlich Helena nebſt dem Caſtor und Pollux gebohren waͤre:
weil der Raub dieſer Prinzeßin die Urſache des gantzen Krieges geweſen. Das war
nun viel zu weit hergeholt.
193 Dem Zwecke zu. Ein jedes Helden-Gedicht hat ſeinen Hauptzweck oder
Abſicht.
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[22/0050] Horatius von der Dicht-Kunſt Jch will von Priams Gluͤck u. Helden Thaten ſingen! Was wird der Prahler doch vor Wunderwercke bringen! Er kreißt wie jener Berg, der eine Maus gebahr. Wer ſieht nicht daß Homer hier viel beſcheidner war? Jhr Muſen zeigt mir den, der Trojens Burg beſtritten, Und nach der Teucrer Fall ſo vieler Voͤlcker Sitten; So manche Stadt geſehn. Hier folgt das finſtre nicht Auf heller Blitze Glantz; der Schatten zeugt das Licht. Er faͤngt gantz niedrig an, um deſtomehr zu ſteigen, Und wird allmaͤhlich ſchon die groͤſten Wunder zeigen, Den Rieſen Polyphem, Charybdens Strudel-Mund, Der Menſchen-Freſſer Grimm und Scyllens wuͤſten Schlund. Den Vortrab wird er nie von weit geſuchten Sachen, Zur Ruͤckkunft Diomeds vom Trojer-Kriege machen, Wo Meleager fiel. Wo faͤngt der groſſe Mann Der 175 180 184 190 192 193 175 Magnanimum Æacidam formidatamque tonanti Progeniem, & vetitam patrio ſuccedere cœlo, Diua refer! ‒ ‒. 180 Beſcheidner. Die Klugheit lehrte dieſen Poeten gantz gelaſſen anfangen, und kein groß Geſchrey machen, als er ſeine Odyſſee ſchrieb. Virgil hat es eben ſo gemacht. Lucan, Statius und Claudian ſind von der rechten Bahn wieder ab- gewichen. Z. E. Dieſer letzte faͤngt ſeinen raptum Proſerpinae ſo an: Inferni raptoris equos, afflataque curru Sidera Tenario, caligantesque profundae Junonis thalamos, audaci promere cantu Mens congeſta jubet. 184 Der Schatten zeugt das Licht. Eigentlich der Dampf geht vor dem Glanze her. Wie der Rauch vor der vollen Flamme entſteht; ſo muß der Anfang eines Gedichtes ſeyn. Nicht aber wie Stoppeln, die gleich lichterlohe brennen, aber auch gleich wieder verloͤſchen. 190 Diomeds. Antimachus, ein griechiſcher Poet, hatte von der Ruͤckreiſe Diomedis ein Gedichte geſchrieben, und den Anfang dazu vom Tode Meleagers vor Troja, gemacht, der doch gar nicht dazu gehoͤrte. 192 Von Ledens Eyern an. Der Urheber der kleinen Jlias hatte ſich vorge- nommen, den gantzen Trojaniſchen Krieg zu beſingen; davon Homer nur einen kleinen Theil in ſeinem Gedichte beſchrieben hat. Er fieng aber die gantze Fabel von forne an, wie nehmlich Helena nebſt dem Caſtor und Pollux gebohren waͤre: weil der Raub dieſer Prinzeßin die Urſache des gantzen Krieges geweſen. Das war nun viel zu weit hergeholt. 193 Dem Zwecke zu. Ein jedes Helden-Gedicht hat ſeinen Hauptzweck oder Abſicht.

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/50>, abgerufen am 24.11.2024.