Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.
Der 125 Wörterpracht. Ampullas & sesquipedalia verba. Das erste geht auf die hohen Gedancken, das andre auf die langen zusammengesetzten Wörter, dadurch im Griechischen die Schreibart erhoben wurde. Beydes würde in dem Munde eines Traurigen sehr seltsam klingen. 129 Bezaubern. Schöne Worte machens noch nicht aus, daß ein Gedichte schön ist: es muß auch durch den Jnhalt einnehmen, bewegen, entzücken, ja fast gar bezaubern. Alle poetische Blümchen, aller Zibeth, Mosch und Ambra, Nectar und Ambrosia ist vergeblich: Alle Rosen und Nelcken, Liljen und Jesminen sind umsonst; Aller Purpur und Marmor, alles Gold und Helfenbein, macht nichts: wenn die innerliche Beschaffenheit der Gedancken nicht das Hertz rühret, die Af- fecten rege macht, und das Gemüthe des Lesers oder Zuschauers in Schauspielen nach Gefallen hin und her treibet. 132 So zeige du mir erst. Diese Regel geht auch die prosaischen Redner an. Cicero hat in seinem andern Buche vom Redner weitläuftig genug davon gehan- delt. Es ist unmöglich die Affecten andrer Leute zu rühren, wenn man nicht selbst dergleichen an sich zeiget. Polus, ein römischer Comödiant, sollte eine Person vorstellen, die ihren Sohn beweinet. Weil ihm nun eben sein einziger Sohn gestor- ben war, so holte er dessen wahrhafften Aschen-Krug auf die Schaubühne, und sprach die dazu gehörigen Verße mit einer so kräfftigen Zueignung auf sich selbst aus, daß ihm sein eigner Berlust wahrhaffte Thränen auspreste. Und da war kein Mensch aufm Schauplatze, der sich der Thränen hätte enthalten können. Man sehe das 18. Cap. der Poetic Aristotelis nach. 135 Ausgelacht. So geht es gemeiniglich denen, die kein Geschicke haben,
eine Sache dem gehörigen Affecte nach auszusprechen, und alles in einem Thone herbeten. Man kan es nicht glauben daß es ihnen ein Ernst sey; und also rühret es auch nicht. Zum Demosthenes kam einer, und verlangte von ihm, jemanden anzuklagen, der ihn geschlagen hätte. Er erzehlte aber solches sehr kaltsinnig: so daß Demosthenes es nicht glauben konnte. Er machte ihm daher viel Einwürfe: Es könne unmöglich seyn, daß er geschlagen worden; denn beleidigte Leute pfleg- ten mit grösserer Bewegung zu reden als er: Bis jener sich endlich erzürnete, und mit
Der 125 Wörterpracht. Ampullas & ſesquipedalia verba. Das erſte geht auf die hohen Gedancken, das andre auf die langen zuſammengeſetzten Woͤrter, dadurch im Griechiſchen die Schreibart erhoben wurde. Beydes wuͤrde in dem Munde eines Traurigen ſehr ſeltſam klingen. 129 Bezaubern. Schoͤne Worte machens noch nicht aus, daß ein Gedichte ſchoͤn iſt: es muß auch durch den Jnhalt einnehmen, bewegen, entzuͤcken, ja faſt gar bezaubern. Alle poetiſche Bluͤmchen, aller Zibeth, Moſch und Ambra, Nectar und Ambroſia iſt vergeblich: Alle Roſen und Nelcken, Liljen und Jeſminen ſind umſonſt; Aller Purpur und Marmor, alles Gold und Helfenbein, macht nichts: wenn die innerliche Beſchaffenheit der Gedancken nicht das Hertz ruͤhret, die Af- fecten rege macht, und das Gemuͤthe des Leſers oder Zuſchauers in Schauſpielen nach Gefallen hin und her treibet. 132 So zeige du mir erſt. Dieſe Regel geht auch die proſaiſchen Redner an. Cicero hat in ſeinem andern Buche vom Redner weitlaͤuftig genug davon gehan- delt. Es iſt unmoͤglich die Affecten andrer Leute zu ruͤhren, wenn man nicht ſelbſt dergleichen an ſich zeiget. Polus, ein roͤmiſcher Comoͤdiant, ſollte eine Perſon vorſtellen, die ihren Sohn beweinet. Weil ihm nun eben ſein einziger Sohn geſtor- ben war, ſo holte er deſſen wahrhafften Aſchen-Krug auf die Schaubuͤhne, und ſprach die dazu gehoͤrigen Verße mit einer ſo kraͤfftigen Zueignung auf ſich ſelbſt aus, daß ihm ſein eigner Berluſt wahrhaffte Thraͤnen auspreſte. Und da war kein Menſch aufm Schauplatze, der ſich der Thraͤnen haͤtte enthalten koͤnnen. Man ſehe das 18. Cap. der Poetic Ariſtotelis nach. 135 Ausgelacht. So geht es gemeiniglich denen, die kein Geſchicke haben,
eine Sache dem gehoͤrigen Affecte nach auszuſprechen, und alles in einem Thone herbeten. Man kan es nicht glauben daß es ihnen ein Ernſt ſey; und alſo ruͤhret es auch nicht. Zum Demoſthenes kam einer, und verlangte von ihm, jemanden anzuklagen, der ihn geſchlagen haͤtte. Er erzehlte aber ſolches ſehr kaltſinnig: ſo daß Demoſthenes es nicht glauben konnte. Er machte ihm daher viel Einwuͤrfe: Es koͤnne unmoͤglich ſeyn, daß er geſchlagen worden; denn beleidigte Leute pfleg- ten mit groͤſſerer Bewegung zu reden als er: Bis jener ſich endlich erzuͤrnete, und mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="4"> <l><pb facs="#f0046" n="18"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Horatius von der Dicht-Kunſt.</hi></fw><lb/><note place="left">125</note>Ohn allen Woͤrter-Pracht; denn ſoll man mit ihm weinen,</l><lb/> <l>So muß uns erſt ſein Schmertz gantz ungekuͤnſtelt ſcheinen.</l><lb/> <l>Laß dein Gedichte nicht nur ſchoͤn und zierlich ſeyn,</l><lb/> <l>Ein wohlgemachter Verß nimmt Hertz und Geiſter ein,</l><lb/> <l>Und kan des Leſers Bruſt bezaubern und gewinnen.<lb/><note place="left">130</note>Man lacht mit Lachenden, und laͤſſet Thraͤnen rinnen</l><lb/> <l>Wenn andre traurig ſind. Drum wenn ich weinen ſoll,</l><lb/> <l>So zeige du mir erſt dein Auge Thraͤnen-voll:</l><lb/> <l>Alsdann o Telephus! wird mich dein Ungluͤck ruͤhren.</l><lb/> <l>Allein iſt an dir ſelbſt kein wahrer Schmertz zu ſpuͤren,<lb/><note place="left">135</note>So ſchlaͤft man druͤber ein, und du wirſt ausgelacht.</l><lb/> <l>Ein weinend Angeſicht das klaͤglich Worte macht,</l><lb/> <l>Jſt der Natur gemaͤß. Ein Eifriger muß zuͤrnen,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/><note place="foot" n="125"><hi rendition="#fr">Wörterpracht.</hi><hi rendition="#aq">Ampullas & ſesquipedalia verba.</hi> Das erſte geht auf<lb/> die hohen Gedancken, das andre auf die langen zuſammengeſetzten Woͤrter, dadurch<lb/> im Griechiſchen die Schreibart erhoben wurde. Beydes wuͤrde in dem Munde<lb/> eines Traurigen ſehr ſeltſam klingen.</note><lb/><note place="foot" n="129"><hi rendition="#fr">Bezaubern.</hi> Schoͤne Worte machens noch nicht aus, daß ein Gedichte<lb/> ſchoͤn iſt: es muß auch durch den Jnhalt einnehmen, bewegen, entzuͤcken, ja faſt<lb/> gar bezaubern. Alle poetiſche Bluͤmchen, aller Zibeth, Moſch und Ambra, Nectar<lb/> und Ambroſia iſt vergeblich: Alle Roſen und Nelcken, Liljen und Jeſminen ſind<lb/> umſonſt; Aller Purpur und Marmor, alles Gold und Helfenbein, macht nichts:<lb/> wenn die innerliche Beſchaffenheit der Gedancken nicht das Hertz ruͤhret, die Af-<lb/> fecten rege macht, und das Gemuͤthe des Leſers oder Zuſchauers in Schauſpielen<lb/> nach Gefallen hin und her treibet.</note><lb/><note place="foot" n="132"><hi rendition="#fr">So zeige du mir erſt.</hi> Dieſe Regel geht auch die proſaiſchen Redner an.<lb/> Cicero hat in ſeinem andern Buche vom Redner weitlaͤuftig genug davon gehan-<lb/> delt. Es iſt unmoͤglich die Affecten andrer Leute zu ruͤhren, wenn man nicht ſelbſt<lb/> dergleichen an ſich zeiget. Polus, ein roͤmiſcher Comoͤdiant, ſollte eine Perſon<lb/> vorſtellen, die ihren Sohn beweinet. Weil ihm nun eben ſein einziger Sohn geſtor-<lb/> ben war, ſo holte er deſſen wahrhafften Aſchen-Krug auf die Schaubuͤhne, und<lb/> ſprach die dazu gehoͤrigen Verße mit einer ſo kraͤfftigen Zueignung auf ſich ſelbſt aus,<lb/> daß ihm ſein eigner Berluſt wahrhaffte Thraͤnen auspreſte. Und da war kein Menſch<lb/> aufm Schauplatze, der ſich der Thraͤnen haͤtte enthalten koͤnnen. Man ſehe das<lb/> 18. Cap. der Poetic Ariſtotelis nach.</note><lb/><note xml:id="f07" next="#f08" place="foot" n="135"><hi rendition="#fr">Ausgelacht.</hi> So geht es gemeiniglich denen, die kein Geſchicke haben,<lb/> eine Sache dem gehoͤrigen Affecte nach auszuſprechen, und alles in einem Thone<lb/> herbeten. Man kan es nicht glauben daß es ihnen ein Ernſt ſey; und alſo ruͤhret<lb/> es auch nicht. Zum Demoſthenes kam einer, und verlangte von ihm, jemanden<lb/> anzuklagen, der ihn geſchlagen haͤtte. Er erzehlte aber ſolches ſehr kaltſinnig: ſo<lb/> daß Demoſthenes es nicht glauben konnte. Er machte ihm daher viel Einwuͤrfe:<lb/> Es koͤnne unmoͤglich ſeyn, daß er geſchlagen worden; denn beleidigte Leute pfleg-<lb/> ten mit groͤſſerer Bewegung zu reden als er: Bis jener ſich endlich erzuͤrnete, und<lb/> <fw place="bottom" type="catch">mit</fw></note><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [18/0046]
Horatius von der Dicht-Kunſt.
Ohn allen Woͤrter-Pracht; denn ſoll man mit ihm weinen,
So muß uns erſt ſein Schmertz gantz ungekuͤnſtelt ſcheinen.
Laß dein Gedichte nicht nur ſchoͤn und zierlich ſeyn,
Ein wohlgemachter Verß nimmt Hertz und Geiſter ein,
Und kan des Leſers Bruſt bezaubern und gewinnen.
Man lacht mit Lachenden, und laͤſſet Thraͤnen rinnen
Wenn andre traurig ſind. Drum wenn ich weinen ſoll,
So zeige du mir erſt dein Auge Thraͤnen-voll:
Alsdann o Telephus! wird mich dein Ungluͤck ruͤhren.
Allein iſt an dir ſelbſt kein wahrer Schmertz zu ſpuͤren,
So ſchlaͤft man druͤber ein, und du wirſt ausgelacht.
Ein weinend Angeſicht das klaͤglich Worte macht,
Jſt der Natur gemaͤß. Ein Eifriger muß zuͤrnen,
Der
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125 Wörterpracht. Ampullas & ſesquipedalia verba. Das erſte geht auf
die hohen Gedancken, das andre auf die langen zuſammengeſetzten Woͤrter, dadurch
im Griechiſchen die Schreibart erhoben wurde. Beydes wuͤrde in dem Munde
eines Traurigen ſehr ſeltſam klingen.
129 Bezaubern. Schoͤne Worte machens noch nicht aus, daß ein Gedichte
ſchoͤn iſt: es muß auch durch den Jnhalt einnehmen, bewegen, entzuͤcken, ja faſt
gar bezaubern. Alle poetiſche Bluͤmchen, aller Zibeth, Moſch und Ambra, Nectar
und Ambroſia iſt vergeblich: Alle Roſen und Nelcken, Liljen und Jeſminen ſind
umſonſt; Aller Purpur und Marmor, alles Gold und Helfenbein, macht nichts:
wenn die innerliche Beſchaffenheit der Gedancken nicht das Hertz ruͤhret, die Af-
fecten rege macht, und das Gemuͤthe des Leſers oder Zuſchauers in Schauſpielen
nach Gefallen hin und her treibet.
132 So zeige du mir erſt. Dieſe Regel geht auch die proſaiſchen Redner an.
Cicero hat in ſeinem andern Buche vom Redner weitlaͤuftig genug davon gehan-
delt. Es iſt unmoͤglich die Affecten andrer Leute zu ruͤhren, wenn man nicht ſelbſt
dergleichen an ſich zeiget. Polus, ein roͤmiſcher Comoͤdiant, ſollte eine Perſon
vorſtellen, die ihren Sohn beweinet. Weil ihm nun eben ſein einziger Sohn geſtor-
ben war, ſo holte er deſſen wahrhafften Aſchen-Krug auf die Schaubuͤhne, und
ſprach die dazu gehoͤrigen Verße mit einer ſo kraͤfftigen Zueignung auf ſich ſelbſt aus,
daß ihm ſein eigner Berluſt wahrhaffte Thraͤnen auspreſte. Und da war kein Menſch
aufm Schauplatze, der ſich der Thraͤnen haͤtte enthalten koͤnnen. Man ſehe das
18. Cap. der Poetic Ariſtotelis nach.
135 Ausgelacht. So geht es gemeiniglich denen, die kein Geſchicke haben,
eine Sache dem gehoͤrigen Affecte nach auszuſprechen, und alles in einem Thone
herbeten. Man kan es nicht glauben daß es ihnen ein Ernſt ſey; und alſo ruͤhret
es auch nicht. Zum Demoſthenes kam einer, und verlangte von ihm, jemanden
anzuklagen, der ihn geſchlagen haͤtte. Er erzehlte aber ſolches ſehr kaltſinnig: ſo
daß Demoſthenes es nicht glauben konnte. Er machte ihm daher viel Einwuͤrfe:
Es koͤnne unmoͤglich ſeyn, daß er geſchlagen worden; denn beleidigte Leute pfleg-
ten mit groͤſſerer Bewegung zu reden als er: Bis jener ſich endlich erzuͤrnete, und
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