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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Jdyllen, Eclogen oder Schäfer-Gedichten.
sein eigener König und Herr; seine Kinder und Knechte sind
seine Unterthanen, seine Nachbaren seine Bundesgenossen
und Freunde; Seine Heerden sein Reichthum, und seine
Feinde sonst niemand als die wilden Thiere, die seinem Viehe
zuweilen Schaden thun wollen. Eine höltzerne Hütte oder
wohl gar ein Strohdach ist ihm sein Pallast, ein grüner Lust-
Wald sein Garten, eine kühle Höle sein Keller, eine Lauber-
hütte sein Sommer-Haus. Flachs und Wolle und ein
Stroh-Hut ist seine Kleidung; Milch und Käse sind seine
Nahrung; die Feld- und Garten-Früchte seine Leckerbissen;
ein höltzerner Becher, eine Flasche, ein Schäfer-Stab und
seine Hirten-Tasche sein gantzer Hausrath. Sein Hund ist
sein Wächter, eine Blume sein Schmuck und seine Erqui-
ckung, und die Music sein bester Zeitvertreib.

Jm Absehen auf den Verstand sind diese glückseelige
Schäfer zwar einfältig, aber nicht dumm. Sie können nach
ihrer Art mancherley Künste, sie flechten schöne Körbe und
künstliche Hüte, sie schelen bunte Stäbe, sie schnitzen Figuren
und Bilder auf ihre Flaschen und Becher, sie winden Blu-
men-Kräntze und pflantzen fruchtbare Bäume. Gelehrt sind
sie zwar nicht; doch wissen sie aus den Erzehlungen ihrer Vor-
fahren von alten Geschichten, und aus dem Unterrichte der
klügsten unter ihnen von den Geheimnissen der Natur, dem
Laufe der Gestirne, u. d. m. doch allezeit mit einer gewissen
Einfalt zu reden. Sie haben einen gewissen natürlichen
Witz, aber keine gekünstelte Scharfsinnigkeit. Sie machen
Vernunftschlüsse, aber von Metaphysischen Abstractionen
wissen sie nichts. Sie halten sich allezeit an dem was sie em-
pfinden, und ihre Unterredungen handeln von dem was ge-
schieht, was sie gesehen oder gehöret haben. Daher lieben sie
die Erzehlungen, und vertiefen sich nach Art einfältiger Leute
zuweilen in besondern Umständen, und solchen Kleinigkeiten,
die nicht eben so nöthig zu wissen wären.

Jhren Willen anlangend, haben sie zwar als Menschen
Affecten; aber keine unordentliche und ausschweifende Be-
gierden, dadurch sie einander beleidigen könnten. Der Geitz
und Ehrgeitz verleitet sie zu keiner Ungerechtigkeit; und man

weiß

Von Jdyllen, Eclogen oder Schaͤfer-Gedichten.
ſein eigener Koͤnig und Herr; ſeine Kinder und Knechte ſind
ſeine Unterthanen, ſeine Nachbaren ſeine Bundesgenoſſen
und Freunde; Seine Heerden ſein Reichthum, und ſeine
Feinde ſonſt niemand als die wilden Thiere, die ſeinem Viehe
zuweilen Schaden thun wollen. Eine hoͤltzerne Huͤtte oder
wohl gar ein Strohdach iſt ihm ſein Pallaſt, ein gruͤner Luſt-
Wald ſein Garten, eine kuͤhle Hoͤle ſein Keller, eine Lauber-
huͤtte ſein Sommer-Haus. Flachs und Wolle und ein
Stroh-Hut iſt ſeine Kleidung; Milch und Kaͤſe ſind ſeine
Nahrung; die Feld- und Garten-Fruͤchte ſeine Leckerbiſſen;
ein hoͤltzerner Becher, eine Flaſche, ein Schaͤfer-Stab und
ſeine Hirten-Taſche ſein gantzer Hausrath. Sein Hund iſt
ſein Waͤchter, eine Blume ſein Schmuck und ſeine Erqui-
ckung, und die Muſic ſein beſter Zeitvertreib.

Jm Abſehen auf den Verſtand ſind dieſe gluͤckſeelige
Schaͤfer zwar einfaͤltig, aber nicht dumm. Sie koͤnnen nach
ihrer Art mancherley Kuͤnſte, ſie flechten ſchoͤne Koͤrbe und
kuͤnſtliche Huͤte, ſie ſchelen bunte Staͤbe, ſie ſchnitzen Figuren
und Bilder auf ihre Flaſchen und Becher, ſie winden Blu-
men-Kraͤntze und pflantzen fruchtbare Baͤume. Gelehrt ſind
ſie zwar nicht; doch wiſſen ſie aus den Erzehlungen ihrer Vor-
fahren von alten Geſchichten, und aus dem Unterrichte der
kluͤgſten unter ihnen von den Geheimniſſen der Natur, dem
Laufe der Geſtirne, u. d. m. doch allezeit mit einer gewiſſen
Einfalt zu reden. Sie haben einen gewiſſen natuͤrlichen
Witz, aber keine gekuͤnſtelte Scharfſinnigkeit. Sie machen
Vernunftſchluͤſſe, aber von Metaphyſiſchen Abſtractionen
wiſſen ſie nichts. Sie halten ſich allezeit an dem was ſie em-
pfinden, und ihre Unterredungen handeln von dem was ge-
ſchieht, was ſie geſehen oder gehoͤret haben. Daher lieben ſie
die Erzehlungen, und vertiefen ſich nach Art einfaͤltiger Leute
zuweilen in beſondern Umſtaͤnden, und ſolchen Kleinigkeiten,
die nicht eben ſo noͤthig zu wiſſen waͤren.

Jhren Willen anlangend, haben ſie zwar als Menſchen
Affecten; aber keine unordentliche und ausſchweifende Be-
gierden, dadurch ſie einander beleidigen koͤnnten. Der Geitz
und Ehrgeitz verleitet ſie zu keiner Ungerechtigkeit; und man

weiß
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[383/0411] Von Jdyllen, Eclogen oder Schaͤfer-Gedichten. ſein eigener Koͤnig und Herr; ſeine Kinder und Knechte ſind ſeine Unterthanen, ſeine Nachbaren ſeine Bundesgenoſſen und Freunde; Seine Heerden ſein Reichthum, und ſeine Feinde ſonſt niemand als die wilden Thiere, die ſeinem Viehe zuweilen Schaden thun wollen. Eine hoͤltzerne Huͤtte oder wohl gar ein Strohdach iſt ihm ſein Pallaſt, ein gruͤner Luſt- Wald ſein Garten, eine kuͤhle Hoͤle ſein Keller, eine Lauber- huͤtte ſein Sommer-Haus. Flachs und Wolle und ein Stroh-Hut iſt ſeine Kleidung; Milch und Kaͤſe ſind ſeine Nahrung; die Feld- und Garten-Fruͤchte ſeine Leckerbiſſen; ein hoͤltzerner Becher, eine Flaſche, ein Schaͤfer-Stab und ſeine Hirten-Taſche ſein gantzer Hausrath. Sein Hund iſt ſein Waͤchter, eine Blume ſein Schmuck und ſeine Erqui- ckung, und die Muſic ſein beſter Zeitvertreib. Jm Abſehen auf den Verſtand ſind dieſe gluͤckſeelige Schaͤfer zwar einfaͤltig, aber nicht dumm. Sie koͤnnen nach ihrer Art mancherley Kuͤnſte, ſie flechten ſchoͤne Koͤrbe und kuͤnſtliche Huͤte, ſie ſchelen bunte Staͤbe, ſie ſchnitzen Figuren und Bilder auf ihre Flaſchen und Becher, ſie winden Blu- men-Kraͤntze und pflantzen fruchtbare Baͤume. Gelehrt ſind ſie zwar nicht; doch wiſſen ſie aus den Erzehlungen ihrer Vor- fahren von alten Geſchichten, und aus dem Unterrichte der kluͤgſten unter ihnen von den Geheimniſſen der Natur, dem Laufe der Geſtirne, u. d. m. doch allezeit mit einer gewiſſen Einfalt zu reden. Sie haben einen gewiſſen natuͤrlichen Witz, aber keine gekuͤnſtelte Scharfſinnigkeit. Sie machen Vernunftſchluͤſſe, aber von Metaphyſiſchen Abſtractionen wiſſen ſie nichts. Sie halten ſich allezeit an dem was ſie em- pfinden, und ihre Unterredungen handeln von dem was ge- ſchieht, was ſie geſehen oder gehoͤret haben. Daher lieben ſie die Erzehlungen, und vertiefen ſich nach Art einfaͤltiger Leute zuweilen in beſondern Umſtaͤnden, und ſolchen Kleinigkeiten, die nicht eben ſo noͤthig zu wiſſen waͤren. Jhren Willen anlangend, haben ſie zwar als Menſchen Affecten; aber keine unordentliche und ausſchweifende Be- gierden, dadurch ſie einander beleidigen koͤnnten. Der Geitz und Ehrgeitz verleitet ſie zu keiner Ungerechtigkeit; und man weiß

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/411>, abgerufen am 28.11.2024.