Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Des II Theils II Capitel Er gehet gantz verwirrt, Und martert sich mit traurigen Gedancken. Das Hertz wird matt, die Knöchel wancken, Das Auge thränt, die Zunge girrt. Der Wälder Einsamkeit Vertreibt ihm nun die lange Zeit, So ihm vorhin, mit süßem Lieben, Euridice, das holde Weib vertrieben. Der Wiederhall Erinnert sich bey seinen Klagen, Der eignen Liebes-Plagen, Und hilft durch manchen Gegenschall, Das Winseln und das Aechzen mehren, Und läßt die Seufzer doppelt hören. Bis endlich Orpheus, gantz ergrimmt, Sein Seytenspiel, die Wunderlaute nimmt, Der Oberwelt den Rücken zeiget, Und in Avernus Klüffte steiget. Da hofft er noch, daß seine Pein Der Höllen selbst empfindlich werde seyn, Und will durch sein bezaubernd Singen, Euridicen zurück, ans Licht des Tages bringen. Schreckliche Gottheit, gewaltige Liebe, Wie verwegen sind die Triebe, Die dein Strahl im Hertzen wirckt? Fluthen und Flammen und Donner und Blitz, Schrecken nicht, wen du erfüllet: Ja wenn vor des Pluto Sitz, Jenes Ungeheuer brüllet; Hat dein Schild die Brust umzirckt, Hast du sie kühn gemacht, alles zu tragen, Alles vor etwas Geliebtes zu wagen, Drum steigt er in die sinstre Klufft, Die Dampf- und Nebel-volle Lufft, Erheitert sich von seinem Lauten-Klange, Und wunderthätigem Gesange; Dadurch er sonst manch wildes Thier bewegt, Davon wohl gar ein Wald zu tantzen pflegt. Hier klagt er nun, daß er zu viel verlohren: Und rufft bey Ach und Weh! Ach warum hatt ich dich erkohren: Euridice, mein Schatz Euridice! Arie.
Des II Theils II Capitel Er gehet gantz verwirrt, Und martert ſich mit traurigen Gedancken. Das Hertz wird matt, die Knoͤchel wancken, Das Auge thraͤnt, die Zunge girrt. Der Waͤlder Einſamkeit Vertreibt ihm nun die lange Zeit, So ihm vorhin, mit ſuͤßem Lieben, Euridice, das holde Weib vertrieben. Der Wiederhall Erinnert ſich bey ſeinen Klagen, Der eignen Liebes-Plagen, Und hilft durch manchen Gegenſchall, Das Winſeln und das Aechzen mehren, Und laͤßt die Seufzer doppelt hoͤren. Bis endlich Orpheus, gantz ergrimmt, Sein Seytenſpiel, die Wunderlaute nimmt, Der Oberwelt den Ruͤcken zeiget, Und in Avernus Kluͤffte ſteiget. Da hofft er noch, daß ſeine Pein Der Hoͤllen ſelbſt empfindlich werde ſeyn, Und will durch ſein bezaubernd Singen, Euridicen zuruͤck, ans Licht des Tages bringen. Schreckliche Gottheit, gewaltige Liebe, Wie verwegen ſind die Triebe, Die dein Strahl im Hertzen wirckt? Fluthen und Flammen und Donner und Blitz, Schrecken nicht, wen du erfuͤllet: Ja wenn vor des Pluto Sitz, Jenes Ungeheuer bruͤllet; Hat dein Schild die Bruſt umzirckt, Haſt du ſie kuͤhn gemacht, alles zu tragen, Alles vor etwas Geliebtes zu wagen, Drum ſteigt er in die ſinſtre Klufft, Die Dampf- und Nebel-volle Lufft, Erheitert ſich von ſeinem Lauten-Klange, Und wunderthaͤtigem Geſange; Dadurch er ſonſt manch wildes Thier bewegt, Davon wohl gar ein Wald zu tantzen pflegt. Hier klagt er nun, daß er zu viel verlohren: Und rufft bey Ach und Weh! Ach warum hatt ich dich erkohren: Euridice, mein Schatz Euridice! Arie.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0404" n="376"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Des <hi rendition="#aq">II</hi> Theils <hi rendition="#aq">II</hi> Capitel</hi> </fw><lb/> <lg n="148"> <l>Er gehet gantz verwirrt,</l><lb/> <l>Und martert ſich mit traurigen Gedancken.</l><lb/> <l>Das Hertz wird matt, die Knoͤchel wancken,</l><lb/> <l>Das Auge thraͤnt, die Zunge girrt.</l><lb/> <l>Der Waͤlder Einſamkeit</l><lb/> <l>Vertreibt ihm nun die lange Zeit,</l><lb/> <l>So ihm vorhin, mit ſuͤßem Lieben,</l><lb/> <l>Euridice, das holde Weib vertrieben.</l><lb/> <l>Der Wiederhall</l><lb/> <l>Erinnert ſich bey ſeinen Klagen,</l><lb/> <l>Der eignen Liebes-Plagen,</l><lb/> <l>Und hilft durch manchen Gegenſchall,</l><lb/> <l>Das Winſeln und das Aechzen mehren,</l><lb/> <l>Und laͤßt die Seufzer doppelt hoͤren.</l><lb/> <l>Bis endlich Orpheus, gantz ergrimmt,</l><lb/> <l>Sein Seytenſpiel, die Wunderlaute nimmt,</l><lb/> <l>Der Oberwelt den Ruͤcken zeiget,</l><lb/> <l>Und in Avernus Kluͤffte ſteiget.</l><lb/> <l>Da hofft er noch, daß ſeine Pein</l><lb/> <l>Der Hoͤllen ſelbſt empfindlich werde ſeyn,</l><lb/> <l>Und will durch ſein bezaubernd Singen,</l><lb/> <l>Euridicen zuruͤck, ans Licht des Tages bringen.</l> </lg><lb/> <lg n="149"> <l>Schreckliche Gottheit, gewaltige Liebe,</l><lb/> <l>Wie verwegen ſind die Triebe,</l><lb/> <l>Die dein Strahl im Hertzen wirckt?</l><lb/> <l>Fluthen und Flammen und Donner und Blitz,</l><lb/> <l>Schrecken nicht, wen du erfuͤllet:</l><lb/> <l>Ja wenn vor des Pluto Sitz,</l><lb/> <l>Jenes Ungeheuer bruͤllet;</l><lb/> <l>Hat dein Schild die Bruſt umzirckt,</l><lb/> <l>Haſt du ſie kuͤhn gemacht, alles zu tragen,</l><lb/> <l>Alles vor etwas Geliebtes zu wagen,</l> </lg><lb/> <lg n="150"> <l>Drum ſteigt er in die ſinſtre Klufft,</l><lb/> <l>Die Dampf- und Nebel-volle Lufft,</l><lb/> <l>Erheitert ſich von ſeinem Lauten-Klange,</l><lb/> <l>Und wunderthaͤtigem Geſange;</l><lb/> <l>Dadurch er ſonſt manch wildes Thier bewegt,</l><lb/> <l>Davon wohl gar ein Wald zu tantzen pflegt.</l><lb/> <l>Hier klagt er nun, daß er zu viel verlohren:</l><lb/> <l>Und rufft bey Ach und Weh!</l><lb/> <l>Ach warum hatt ich dich erkohren:</l><lb/> <l>Euridice, mein Schatz Euridice!</l> </lg><lb/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#fr">Arie.</hi> </fw><lb/> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [376/0404]
Des II Theils II Capitel
Er gehet gantz verwirrt,
Und martert ſich mit traurigen Gedancken.
Das Hertz wird matt, die Knoͤchel wancken,
Das Auge thraͤnt, die Zunge girrt.
Der Waͤlder Einſamkeit
Vertreibt ihm nun die lange Zeit,
So ihm vorhin, mit ſuͤßem Lieben,
Euridice, das holde Weib vertrieben.
Der Wiederhall
Erinnert ſich bey ſeinen Klagen,
Der eignen Liebes-Plagen,
Und hilft durch manchen Gegenſchall,
Das Winſeln und das Aechzen mehren,
Und laͤßt die Seufzer doppelt hoͤren.
Bis endlich Orpheus, gantz ergrimmt,
Sein Seytenſpiel, die Wunderlaute nimmt,
Der Oberwelt den Ruͤcken zeiget,
Und in Avernus Kluͤffte ſteiget.
Da hofft er noch, daß ſeine Pein
Der Hoͤllen ſelbſt empfindlich werde ſeyn,
Und will durch ſein bezaubernd Singen,
Euridicen zuruͤck, ans Licht des Tages bringen.
Schreckliche Gottheit, gewaltige Liebe,
Wie verwegen ſind die Triebe,
Die dein Strahl im Hertzen wirckt?
Fluthen und Flammen und Donner und Blitz,
Schrecken nicht, wen du erfuͤllet:
Ja wenn vor des Pluto Sitz,
Jenes Ungeheuer bruͤllet;
Hat dein Schild die Bruſt umzirckt,
Haſt du ſie kuͤhn gemacht, alles zu tragen,
Alles vor etwas Geliebtes zu wagen,
Drum ſteigt er in die ſinſtre Klufft,
Die Dampf- und Nebel-volle Lufft,
Erheitert ſich von ſeinem Lauten-Klange,
Und wunderthaͤtigem Geſange;
Dadurch er ſonſt manch wildes Thier bewegt,
Davon wohl gar ein Wald zu tantzen pflegt.
Hier klagt er nun, daß er zu viel verlohren:
Und rufft bey Ach und Weh!
Ach warum hatt ich dich erkohren:
Euridice, mein Schatz Euridice!
Arie.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |