DJe Cantaten sind eine neue Erfindung der Jtaliener, davon die Alten nichts gewust: Es hat aber gleicherge- stalt die Musick Gelegenheit dazu gegeben, und sie sind an statt der Oden eingeführet worden. Weil in Liedern von einerley Strophen auch dieselbe Melodie beybehalten werden muste; So ward man gewahr daß sich dieselbe nicht zu allen gleich gut schickte. Der erste Vers einer Ode war z. E. traurig, und gegen das Ende legte sich dieser Affect, ja veränderte sich wohl gar in eine Freude. Hatte sich nun die Gesang-Weise zum Anfange gut geschickt; so schickte sie sich zum Ausgange desto schlechter. Denn wie klingt es, wenn ein lustiger Text nach einer traurigen Melodie gesungen wird? War aber die Music weder traurig noch lustig: so schickte sie sich weder zum Anfange noch zum Ende recht, weil sie keins von beyden in der gehörigen Schönheit vorstellete, keine Ge- müthsbewegung recht lebhafft ausdrückete. Daher gerieht man auf die Gedancken, die Lieder nicht mehr so gar einträch- tig zu machen, keine solche ähnliche Strophen mehr zu beob- achten; sondern Zeilen von ungleicher Länge, auf eine unge- bundene Art durch einander laufen zu lassen, und alsdann die Music durchgehends nach dem Jnhalte des Gedichtes zu be- qvemen: Dadurch würde man jenen Ubelstand der Oden gewiß vermeiden, und jede Zeile eines solchen Gesanges dem darinn herrschenden Affecte gemäß, ausdrücken, jedem Wor- te nach seinem rechten Sinne den gehörigen Thon und Nach- druck geben können. Die Sache war nicht schwer ins Werck zu richten: denn die Poeten bekamen mehr Freyheit, und die Componisten tausendfache Gelegenheit, ihre Künste und mu- sicalische Einfä[ll]e recht sehen zu lassen. Sie bemüheten sich nunmehro fast alle Sylben eines solchen Liedes durch die Ver- schiedenheit des Klanges, auszudrücken, und alle mögliche Abwechselungen darinn zu versuchen. Es war ihnen nicht mehr genug, daß sie eine Redensart auf einerley Art in die
Musick
Des II Theils II Capitel
Das andere Capitel Von Cantaten.
DJe Cantaten ſind eine neue Erfindung der Jtaliener, davon die Alten nichts gewuſt: Es hat aber gleicherge- ſtalt die Muſick Gelegenheit dazu gegeben, und ſie ſind an ſtatt der Oden eingefuͤhret worden. Weil in Liedern von einerley Strophen auch dieſelbe Melodie beybehalten werden muſte; So ward man gewahr daß ſich dieſelbe nicht zu allen gleich gut ſchickte. Der erſte Vers einer Ode war z. E. traurig, und gegen das Ende legte ſich dieſer Affect, ja veraͤnderte ſich wohl gar in eine Freude. Hatte ſich nun die Geſang-Weiſe zum Anfange gut geſchickt; ſo ſchickte ſie ſich zum Ausgange deſto ſchlechter. Denn wie klingt es, wenn ein luſtiger Text nach einer traurigen Melodie geſungen wird? War aber die Muſic weder traurig noch luſtig: ſo ſchickte ſie ſich weder zum Anfange noch zum Ende recht, weil ſie keins von beyden in der gehoͤrigen Schoͤnheit vorſtellete, keine Ge- muͤthsbewegung recht lebhafft ausdruͤckete. Daher gerieht man auf die Gedancken, die Lieder nicht mehr ſo gar eintraͤch- tig zu machen, keine ſolche aͤhnliche Strophen mehr zu beob- achten; ſondern Zeilen von ungleicher Laͤnge, auf eine unge- bundene Art durch einander laufen zu laſſen, und alsdann die Muſic durchgehends nach dem Jnhalte des Gedichtes zu be- qvemen: Dadurch wuͤrde man jenen Ubelſtand der Oden gewiß vermeiden, und jede Zeile eines ſolchen Geſanges dem darinn herrſchenden Affecte gemaͤß, ausdruͤcken, jedem Wor- te nach ſeinem rechten Sinne den gehoͤrigen Thon und Nach- druck geben koͤnnen. Die Sache war nicht ſchwer ins Werck zu richten: denn die Poeten bekamen mehr Freyheit, und die Componiſten tauſendfache Gelegenheit, ihre Kuͤnſte und mu- ſicaliſche Einfaͤ[ll]e recht ſehen zu laſſen. Sie bemuͤheten ſich nunmehro faſt alle Sylben eines ſolchen Liedes durch die Ver- ſchiedenheit des Klanges, auszudruͤcken, und alle moͤgliche Abwechſelungen darinn zu verſuchen. Es war ihnen nicht mehr genug, daß ſie eine Redensart auf einerley Art in die
Muſick
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Des II Theils II Capitel
Das andere Capitel
Von Cantaten.
DJe Cantaten ſind eine neue Erfindung der Jtaliener,
davon die Alten nichts gewuſt: Es hat aber gleicherge-
ſtalt die Muſick Gelegenheit dazu gegeben, und ſie
ſind an ſtatt der Oden eingefuͤhret worden. Weil in Liedern
von einerley Strophen auch dieſelbe Melodie beybehalten
werden muſte; So ward man gewahr daß ſich dieſelbe nicht
zu allen gleich gut ſchickte. Der erſte Vers einer Ode war
z. E. traurig, und gegen das Ende legte ſich dieſer Affect, ja
veraͤnderte ſich wohl gar in eine Freude. Hatte ſich nun die
Geſang-Weiſe zum Anfange gut geſchickt; ſo ſchickte ſie ſich
zum Ausgange deſto ſchlechter. Denn wie klingt es, wenn
ein luſtiger Text nach einer traurigen Melodie geſungen wird?
War aber die Muſic weder traurig noch luſtig: ſo ſchickte ſie
ſich weder zum Anfange noch zum Ende recht, weil ſie keins
von beyden in der gehoͤrigen Schoͤnheit vorſtellete, keine Ge-
muͤthsbewegung recht lebhafft ausdruͤckete. Daher gerieht
man auf die Gedancken, die Lieder nicht mehr ſo gar eintraͤch-
tig zu machen, keine ſolche aͤhnliche Strophen mehr zu beob-
achten; ſondern Zeilen von ungleicher Laͤnge, auf eine unge-
bundene Art durch einander laufen zu laſſen, und alsdann die
Muſic durchgehends nach dem Jnhalte des Gedichtes zu be-
qvemen: Dadurch wuͤrde man jenen Ubelſtand der Oden
gewiß vermeiden, und jede Zeile eines ſolchen Geſanges dem
darinn herrſchenden Affecte gemaͤß, ausdruͤcken, jedem Wor-
te nach ſeinem rechten Sinne den gehoͤrigen Thon und Nach-
druck geben koͤnnen. Die Sache war nicht ſchwer ins Werck
zu richten: denn die Poeten bekamen mehr Freyheit, und die
Componiſten tauſendfache Gelegenheit, ihre Kuͤnſte und mu-
ſicaliſche Einfaͤlle recht ſehen zu laſſen. Sie bemuͤheten ſich
nunmehro faſt alle Sylben eines ſolchen Liedes durch die Ver-
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Abwechſelungen darinn zu verſuchen. Es war ihnen nicht
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/386>, abgerufen am 22.12.2024.
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