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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XII. Capitel
und entweder einen Punct oder doch ein Colon am Ende
leiden.

Gantz anders verhält sichs im Deutschen mit unsern
heroischen Verßen, wo man die Reime nicht trennet. Zwar
haben wir die Freyheit der Lateiner und Griechen nicht,
welche den Punct überall hinbringen konnten. Exempel
darf ich von einer so klaren Sache nicht anführen, denn
man wird sie auf allen Blättern der Poeten, sonderlich
aber Horatii antreffen. Daher verwirft man heute zu
Tage, was unsre Alten in diesem Stücke sich heraus ge-
nommen. Z. E. Lohenstein in der Cleopatra Vten Handl.
I. Auftr. läßt die Königin sagen:

Wascht sieben Tag euch nicht. Umschränckt die Todten-Kiste
Mit Eppich. Ziehet Säck anstatt Damasten an.

Und bald hernach in derselben Scene sagt Belisar:

Serapens Tempel gläntzt
Voll Feuer. Das Altar der Jsis ist bekräntzt
Mit Myrthen. Und das Volck etc.

Das klingt nun wohl freylich nicht schön, und man hat
Ursache gehabt in neuern Gedichten sich vor solchen Freyhei-
ten in acht zu nehmen. Doch haben wir uns auch so genau
nicht binden wollen, als die Franzosen, welche niemals anders-
wo als am Ende der Zeilen einen Schluß-Punct leiden.
Unsre beste und reinste Poeten haben sichs niemahls verbo-
ten, den Verstand in heroischen Verßen bis an den Abschnitt
einer folgenden Zeile zu ziehen. Jch will nur Amthorn und
Günthern zum Beweise anführen, die gewiß in der Rei-
nigkeit ohne Tadel sind. Der erste will in der Ubersetzung
aus Virgils Eneis von den Musen wissen,

Warum Junonens Zorn durch ihres Eifers Macht
Auch selbst die Frömmigkeit in solche Noth gebracht,
Jn so gehäufte Noth? Jst das auch wohl zu loben,
Daß selbst die Götter so vor Wuth und Rache toben.

Und

Das XII. Capitel
und entweder einen Punct oder doch ein Colon am Ende
leiden.

Gantz anders verhaͤlt ſichs im Deutſchen mit unſern
heroiſchen Verßen, wo man die Reime nicht trennet. Zwar
haben wir die Freyheit der Lateiner und Griechen nicht,
welche den Punct uͤberall hinbringen konnten. Exempel
darf ich von einer ſo klaren Sache nicht anfuͤhren, denn
man wird ſie auf allen Blaͤttern der Poeten, ſonderlich
aber Horatii antreffen. Daher verwirft man heute zu
Tage, was unſre Alten in dieſem Stuͤcke ſich heraus ge-
nommen. Z. E. Lohenſtein in der Cleopatra Vten Handl.
I. Auftr. laͤßt die Koͤnigin ſagen:

Waſcht ſieben Tag euch nicht. Umſchraͤnckt die Todten-Kiſte
Mit Eppich. Ziehet Saͤck anſtatt Damaſten an.

Und bald hernach in derſelben Scene ſagt Beliſar:

Serapens Tempel glaͤntzt
Voll Feuer. Das Altar der Jſis iſt bekraͤntzt
Mit Myrthen. Und das Volck ꝛc.

Das klingt nun wohl freylich nicht ſchoͤn, und man hat
Urſache gehabt in neuern Gedichten ſich vor ſolchen Freyhei-
ten in acht zu nehmen. Doch haben wir uns auch ſo genau
nicht binden wollen, als die Franzoſen, welche niemals anders-
wo als am Ende der Zeilen einen Schluß-Punct leiden.
Unſre beſte und reinſte Poeten haben ſichs niemahls verbo-
ten, den Verſtand in heroiſchen Verßen bis an den Abſchnitt
einer folgenden Zeile zu ziehen. Jch will nur Amthorn und
Guͤnthern zum Beweiſe anfuͤhren, die gewiß in der Rei-
nigkeit ohne Tadel ſind. Der erſte will in der Uberſetzung
aus Virgils Eneis von den Muſen wiſſen,

Warum Junonens Zorn durch ihres Eifers Macht
Auch ſelbſt die Froͤmmigkeit in ſolche Noth gebracht,
Jn ſo gehaͤufte Noth? Jſt das auch wohl zu loben,
Daß ſelbſt die Goͤtter ſo vor Wuth und Rache toben.

Und
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[322/0350] Das XII. Capitel und entweder einen Punct oder doch ein Colon am Ende leiden. Gantz anders verhaͤlt ſichs im Deutſchen mit unſern heroiſchen Verßen, wo man die Reime nicht trennet. Zwar haben wir die Freyheit der Lateiner und Griechen nicht, welche den Punct uͤberall hinbringen konnten. Exempel darf ich von einer ſo klaren Sache nicht anfuͤhren, denn man wird ſie auf allen Blaͤttern der Poeten, ſonderlich aber Horatii antreffen. Daher verwirft man heute zu Tage, was unſre Alten in dieſem Stuͤcke ſich heraus ge- nommen. Z. E. Lohenſtein in der Cleopatra Vten Handl. I. Auftr. laͤßt die Koͤnigin ſagen: Waſcht ſieben Tag euch nicht. Umſchraͤnckt die Todten-Kiſte Mit Eppich. Ziehet Saͤck anſtatt Damaſten an. Und bald hernach in derſelben Scene ſagt Beliſar: Serapens Tempel glaͤntzt Voll Feuer. Das Altar der Jſis iſt bekraͤntzt Mit Myrthen. Und das Volck ꝛc. Das klingt nun wohl freylich nicht ſchoͤn, und man hat Urſache gehabt in neuern Gedichten ſich vor ſolchen Freyhei- ten in acht zu nehmen. Doch haben wir uns auch ſo genau nicht binden wollen, als die Franzoſen, welche niemals anders- wo als am Ende der Zeilen einen Schluß-Punct leiden. Unſre beſte und reinſte Poeten haben ſichs niemahls verbo- ten, den Verſtand in heroiſchen Verßen bis an den Abſchnitt einer folgenden Zeile zu ziehen. Jch will nur Amthorn und Guͤnthern zum Beweiſe anfuͤhren, die gewiß in der Rei- nigkeit ohne Tadel ſind. Der erſte will in der Uberſetzung aus Virgils Eneis von den Muſen wiſſen, Warum Junonens Zorn durch ihres Eifers Macht Auch ſelbſt die Froͤmmigkeit in ſolche Noth gebracht, Jn ſo gehaͤufte Noth? Jſt das auch wohl zu loben, Daß ſelbſt die Goͤtter ſo vor Wuth und Rache toben. Und

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/350>, abgerufen am 26.08.2024.