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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XII. Capitel
und in Alexandrinischen nach der sechsten, oder vielmehr
gerade in der Helfte den Abschnitt zu machen beliebet; und
sich beständig daran gebunden. Denn was einige Stüm-
per unter uns anlanget, die in einigen Gedichten sich ei-
ner Jtaliänischen Freyheit anmassen, und sonderlich in den
fünf-füßigen Versen, den Abschnitt bald nach der vierten
bald nach der sechsten Sylbe, bald auch wohl gar nicht ge-
macht; so überläßt man dieselbe ihrem Eigensinne und dem
Gespötte der Schüler, die den Ubelklang solcher Zeilen so-
gleich wahrnehmen. Es klingt noch einmahl so gut, wenn
man selbst durch die Worte und den Sinn des Dichters,
allezeit an einer gewissen Stelle, etwas inne zu halten ge-
nöthiget wird, ohne daß der Verstand zerrissen werden,
oder der Wortfügung zuviel geschehen darf. Es ist daher
ein Ubelstand, wenn in der ersten Helfte des Verßes ein
Beywort an dem Abschnitte steht, da indessen das Nenn-
wort, so dazu gehört, allererst in der andern Helfte folget.
Z. E. wenn ich schriebe:

Die unvergleichlichen | Poeten unsrer Zeiten etc.

Hier trennet der Abschnitt ein paar Wörter und Begriffe,
so zusammen gehören, welches sehr unangenehm fällt; und
gleichwohl ist Bessern ein solcher gedehnter Vers entfah-
ren:

O unerbittliches Verhängniß meiner Jahre.

der gewiß nicht ein Haar besser ist als der obige. Aus
gleicher Ursache hat mir folgender Vers eben dieses Poeten
niemahls gefallen wollen:

Die GOtt und ihrem Mann | getreueste Calliste etc.

Hier ist ebenfalls die erste Helfte des so langgestreckten Bey-
wortes zur Calliste, durch den Abschnitt zertrennet worden;
so daß man mit Wiederwillen daselbst stille halten muß,
wo man noch nichts rechtes dencken kan. Gantz besondre
Regeln kan man indessen von allen Fehlern, die hier be-
gangen werden, nicht geben. Ein jeder muß nach seinem
eigenen Gehör sich aus den Schrifften der reinesten Poe-

ten

Das XII. Capitel
und in Alexandriniſchen nach der ſechſten, oder vielmehr
gerade in der Helfte den Abſchnitt zu machen beliebet; und
ſich beſtaͤndig daran gebunden. Denn was einige Stuͤm-
per unter uns anlanget, die in einigen Gedichten ſich ei-
ner Jtaliaͤniſchen Freyheit anmaſſen, und ſonderlich in den
fuͤnf-fuͤßigen Verſen, den Abſchnitt bald nach der vierten
bald nach der ſechſten Sylbe, bald auch wohl gar nicht ge-
macht; ſo uͤberlaͤßt man dieſelbe ihrem Eigenſinne und dem
Geſpoͤtte der Schuͤler, die den Ubelklang ſolcher Zeilen ſo-
gleich wahrnehmen. Es klingt noch einmahl ſo gut, wenn
man ſelbſt durch die Worte und den Sinn des Dichters,
allezeit an einer gewiſſen Stelle, etwas inne zu halten ge-
noͤthiget wird, ohne daß der Verſtand zerriſſen werden,
oder der Wortfuͤgung zuviel geſchehen darf. Es iſt daher
ein Ubelſtand, wenn in der erſten Helfte des Verßes ein
Beywort an dem Abſchnitte ſteht, da indeſſen das Nenn-
wort, ſo dazu gehoͤrt, allererſt in der andern Helfte folget.
Z. E. wenn ich ſchriebe:

Die unvergleichlichen | Poeten unſrer Zeiten ꝛc.

Hier trennet der Abſchnitt ein paar Woͤrter und Begriffe,
ſo zuſammen gehoͤren, welches ſehr unangenehm faͤllt; und
gleichwohl iſt Beſſern ein ſolcher gedehnter Vers entfah-
ren:

O unerbittliches Verhaͤngniß meiner Jahre.

der gewiß nicht ein Haar beſſer iſt als der obige. Aus
gleicher Urſache hat mir folgender Vers eben dieſes Poeten
niemahls gefallen wollen:

Die GOtt und ihrem Mann | getreueſte Calliſte ꝛc.

Hier iſt ebenfalls die erſte Helfte des ſo langgeſtreckten Bey-
wortes zur Calliſte, durch den Abſchnitt zertrennet worden;
ſo daß man mit Wiederwillen daſelbſt ſtille halten muß,
wo man noch nichts rechtes dencken kan. Gantz beſondre
Regeln kan man indeſſen von allen Fehlern, die hier be-
gangen werden, nicht geben. Ein jeder muß nach ſeinem
eigenen Gehoͤr ſich aus den Schrifften der reineſten Poe-

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[320/0348] Das XII. Capitel und in Alexandriniſchen nach der ſechſten, oder vielmehr gerade in der Helfte den Abſchnitt zu machen beliebet; und ſich beſtaͤndig daran gebunden. Denn was einige Stuͤm- per unter uns anlanget, die in einigen Gedichten ſich ei- ner Jtaliaͤniſchen Freyheit anmaſſen, und ſonderlich in den fuͤnf-fuͤßigen Verſen, den Abſchnitt bald nach der vierten bald nach der ſechſten Sylbe, bald auch wohl gar nicht ge- macht; ſo uͤberlaͤßt man dieſelbe ihrem Eigenſinne und dem Geſpoͤtte der Schuͤler, die den Ubelklang ſolcher Zeilen ſo- gleich wahrnehmen. Es klingt noch einmahl ſo gut, wenn man ſelbſt durch die Worte und den Sinn des Dichters, allezeit an einer gewiſſen Stelle, etwas inne zu halten ge- noͤthiget wird, ohne daß der Verſtand zerriſſen werden, oder der Wortfuͤgung zuviel geſchehen darf. Es iſt daher ein Ubelſtand, wenn in der erſten Helfte des Verßes ein Beywort an dem Abſchnitte ſteht, da indeſſen das Nenn- wort, ſo dazu gehoͤrt, allererſt in der andern Helfte folget. Z. E. wenn ich ſchriebe: Die unvergleichlichen | Poeten unſrer Zeiten ꝛc. Hier trennet der Abſchnitt ein paar Woͤrter und Begriffe, ſo zuſammen gehoͤren, welches ſehr unangenehm faͤllt; und gleichwohl iſt Beſſern ein ſolcher gedehnter Vers entfah- ren: O unerbittliches Verhaͤngniß meiner Jahre. der gewiß nicht ein Haar beſſer iſt als der obige. Aus gleicher Urſache hat mir folgender Vers eben dieſes Poeten niemahls gefallen wollen: Die GOtt und ihrem Mann | getreueſte Calliſte ꝛc. Hier iſt ebenfalls die erſte Helfte des ſo langgeſtreckten Bey- wortes zur Calliſte, durch den Abſchnitt zertrennet worden; ſo daß man mit Wiederwillen daſelbſt ſtille halten muß, wo man noch nichts rechtes dencken kan. Gantz beſondre Regeln kan man indeſſen von allen Fehlern, die hier be- gangen werden, nicht geben. Ein jeder muß nach ſeinem eigenen Gehoͤr ſich aus den Schrifften der reineſten Poe- ten

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/348>, abgerufen am 24.11.2024.