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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart.
derum in Verßen lesen: da sich die Franzosen mit prosaischen
Ubersetzungen behelfen müssen. Diese rauben den Originalien
die Helfte ihrer Schönheit, weil die ungebundne Rede nie-
mahls soviel Feuer, Geist und Nachdruck haben kan, als die
harmonische Schreibart der Poeten. Es ist aber allerdings
nützlich, wenn auch unstudirte Leute und Frauenzimmer sich
eine Kenntniß der Alten in ihrer Muttersprache zuwege brin-
gen können.

Drittens würden wir auch in Schauspielen bald glückli-
cher werden, als wir noch zur Zeit sind. Tragödien und Co-
mödien können und sollen von rechtswegen in einer leichten
Art von Verßen geschrieben seyn, damit sie von der gemeinen
Sprache nicht mercklich unterschieden, und doch einigermas-
sen zierlicher als der tägliche Umgang der Leute seyn möge.
Wenn nun alle Personen mit gereimten Verßen auf die
Schaubühne treten, und dieselben herbeten oder wohl gar her-
singen: Wie kan das natürlich herauskommen? Oder wie
kan es dem Zuschauer wahrscheinlich seyn, daß er wircklich
die Handlungen gewisser Leute mit ansehe, und ihre ernstli-
che Gespräche höre? Die Reime klingen immer gar zu stu-
dirt, und erinnern ihn ohn Unterlaß, daß er nur in der Co-
mödie sey, welches er zuweilen gern vergessen wollte; um ein
desto größeres Vergnügen zu genießen. Jn diesem Stücke
haben die heutigen Engelländer auch vor den Franzosen den
Vorzug, indem sie nach dem Exempel der Alten in vielen ih-
rer besten Tragödien nur ungereimte Verße brauchen, da
hingegen diese lauter reimende Helden aufs Theatrum stellen.
Sollte ich es einmahl wagen ein Trauerspiel zu machen, so
will ich es versuchen, in wieweit man hierinn wieder den
Strom schwimmen könne.

Es sind aber bey uns Deutschen sowohl als bey den Fran-
zosen zweyerley Reime im Schwange, nehmlich die einsyl-
bigten Männlichen, und die zweysylbigten Weiblichen.
Diese vermischen wir miteinander auf vielerley Art, wie in
den gemeinen poetischen Handbüchern nach der Länge gewie-
sen wird. Und eine solche Abwechselung erweckt wiederum
eine Art der Belustigung vor die Ohren. Hergegen die

Jta-

Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
derum in Verßen leſen: da ſich die Franzoſen mit proſaiſchen
Uberſetzungen behelfen muͤſſen. Dieſe rauben den Originalien
die Helfte ihrer Schoͤnheit, weil die ungebundne Rede nie-
mahls ſoviel Feuer, Geiſt und Nachdruck haben kan, als die
harmoniſche Schreibart der Poeten. Es iſt aber allerdings
nuͤtzlich, wenn auch unſtudirte Leute und Frauenzimmer ſich
eine Kenntniß der Alten in ihrer Mutterſprache zuwege brin-
gen koͤnnen.

Drittens wuͤrden wir auch in Schauſpielen bald gluͤckli-
cher werden, als wir noch zur Zeit ſind. Tragoͤdien und Co-
moͤdien koͤnnen und ſollen von rechtswegen in einer leichten
Art von Verßen geſchrieben ſeyn, damit ſie von der gemeinen
Sprache nicht mercklich unterſchieden, und doch einigermaſ-
ſen zierlicher als der taͤgliche Umgang der Leute ſeyn moͤge.
Wenn nun alle Perſonen mit gereimten Verßen auf die
Schaubuͤhne treten, und dieſelben herbeten oder wohl gar her-
ſingen: Wie kan das natuͤrlich herauskommen? Oder wie
kan es dem Zuſchauer wahrſcheinlich ſeyn, daß er wircklich
die Handlungen gewiſſer Leute mit anſehe, und ihre ernſtli-
che Geſpraͤche hoͤre? Die Reime klingen immer gar zu ſtu-
dirt, und erinnern ihn ohn Unterlaß, daß er nur in der Co-
moͤdie ſey, welches er zuweilen gern vergeſſen wollte; um ein
deſto groͤßeres Vergnuͤgen zu genießen. Jn dieſem Stuͤcke
haben die heutigen Engellaͤnder auch vor den Franzoſen den
Vorzug, indem ſie nach dem Exempel der Alten in vielen ih-
rer beſten Tragoͤdien nur ungereimte Verße brauchen, da
hingegen dieſe lauter reimende Helden aufs Theatrum ſtellen.
Sollte ich es einmahl wagen ein Trauerſpiel zu machen, ſo
will ich es verſuchen, in wieweit man hierinn wieder den
Strom ſchwimmen koͤnne.

Es ſind aber bey uns Deutſchen ſowohl als bey den Fran-
zoſen zweyerley Reime im Schwange, nehmlich die einſyl-
bigten Maͤnnlichen, und die zweyſylbigten Weiblichen.
Dieſe vermiſchen wir miteinander auf vielerley Art, wie in
den gemeinen poetiſchen Handbuͤchern nach der Laͤnge gewie-
ſen wird. Und eine ſolche Abwechſelung erweckt wiederum
eine Art der Beluſtigung vor die Ohren. Hergegen die

Jta-
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[315/0343] Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart. derum in Verßen leſen: da ſich die Franzoſen mit proſaiſchen Uberſetzungen behelfen muͤſſen. Dieſe rauben den Originalien die Helfte ihrer Schoͤnheit, weil die ungebundne Rede nie- mahls ſoviel Feuer, Geiſt und Nachdruck haben kan, als die harmoniſche Schreibart der Poeten. Es iſt aber allerdings nuͤtzlich, wenn auch unſtudirte Leute und Frauenzimmer ſich eine Kenntniß der Alten in ihrer Mutterſprache zuwege brin- gen koͤnnen. Drittens wuͤrden wir auch in Schauſpielen bald gluͤckli- cher werden, als wir noch zur Zeit ſind. Tragoͤdien und Co- moͤdien koͤnnen und ſollen von rechtswegen in einer leichten Art von Verßen geſchrieben ſeyn, damit ſie von der gemeinen Sprache nicht mercklich unterſchieden, und doch einigermaſ- ſen zierlicher als der taͤgliche Umgang der Leute ſeyn moͤge. Wenn nun alle Perſonen mit gereimten Verßen auf die Schaubuͤhne treten, und dieſelben herbeten oder wohl gar her- ſingen: Wie kan das natuͤrlich herauskommen? Oder wie kan es dem Zuſchauer wahrſcheinlich ſeyn, daß er wircklich die Handlungen gewiſſer Leute mit anſehe, und ihre ernſtli- che Geſpraͤche hoͤre? Die Reime klingen immer gar zu ſtu- dirt, und erinnern ihn ohn Unterlaß, daß er nur in der Co- moͤdie ſey, welches er zuweilen gern vergeſſen wollte; um ein deſto groͤßeres Vergnuͤgen zu genießen. Jn dieſem Stuͤcke haben die heutigen Engellaͤnder auch vor den Franzoſen den Vorzug, indem ſie nach dem Exempel der Alten in vielen ih- rer beſten Tragoͤdien nur ungereimte Verße brauchen, da hingegen dieſe lauter reimende Helden aufs Theatrum ſtellen. Sollte ich es einmahl wagen ein Trauerſpiel zu machen, ſo will ich es verſuchen, in wieweit man hierinn wieder den Strom ſchwimmen koͤnne. Es ſind aber bey uns Deutſchen ſowohl als bey den Fran- zoſen zweyerley Reime im Schwange, nehmlich die einſyl- bigten Maͤnnlichen, und die zweyſylbigten Weiblichen. Dieſe vermiſchen wir miteinander auf vielerley Art, wie in den gemeinen poetiſchen Handbuͤchern nach der Laͤnge gewie- ſen wird. Und eine ſolche Abwechſelung erweckt wiederum eine Art der Beluſtigung vor die Ohren. Hergegen die Jta-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/343>, abgerufen am 24.11.2024.