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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart.
Seckendorf ist zwar sonst ein gelehrter Mann, aber in der
Poesie von der Stärcke nicht gewesen, daß er dergleichen un-
gewöhnliche Sachen hätte ins Werck richten können. Und
ich glaube dem ungeachtet doch, daß er mehr würde ausge-
richtet haben, wenn an seinen Verßen nichts mehr als der
Reim gefehlet hätte. Allein man sehe nur folgende Probe
davon an; so wird mans gewahr werden. Es mag gleich
der Anfang des gantzen Gedichtes dazu dienen, davon wir im
vorigen Capitel den Grundtext gelesen haben:

Den mehr als Bürger-Krieg im Feld Emathiens
Geführt, beschreiben wir, wie Unrecht recht bekommen,
Des starcken Volckes Hand voll Siegs in sein Geweide
Verkehrt und aufgestellt zwey Blutsverwandte Heere
Den Bund ums Reich getrennt, mit aller Macht gekämpft,
Der aufgerührten Welt zu gleicher Ungebühr,
Da feindlich wieder sich gestossen Römer-Fahnen,
Auf Römer-Fahnen loß, auch Adler wiederstunden
Den Adlern gleicher Art, auch Bürgerspieße drehten
Sich wieder Bürgerspieß.

Hier sieht man wohl, daß außer der großen Weitläuftigkeit,
womit er sein Original ausgedrücket, auch sonst viel rauhes
und hartes mit unterläuft, dadurch der Vers unangenehm
geworden wäre, gesetzt daß er die besten Reime von der Welt
gehabt hätte. Wenn also Lucans ungereimte Ubersetzung
nicht Beyfall gefunden, so folgt es deßwegen nicht, daß kein
ander Vers ohne Reime beliebt werden könnte. Jch wollte
wetten, wenn Günther sich an diese Arbeit einmahl gewagt
hätte: es würde ihm zehnmahl besser gelungen seyn. Jch
selbst habe einmahl einen Versuch gethan, da ich eine Stelle
aus einem griechischen Poeten zu übersetzen hatte, die ich gern
aufs genaueste ausdrücken wollte, welches in gereimten
Verßen nicht so leicht angegangen wäre. Zur Probe will
ich nur den Beschluß derselben aus dem I Theil des Bieder-
manns p. 167. anführen. Es ist aber das Gebet eines heyd-
nischen Poeten an den Jupiter.

Du gnadenreicher Zevs, du Herr der finstern Wolcken,
Du starcker Donner-Gott, begab uns mit Verstand.
Vertilg uns Sterblichen die Thorheit aus dem Herzen,
Und lencke Sinn und Geist, wohin du selber willst.
Für
U 5

Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
Seckendorf iſt zwar ſonſt ein gelehrter Mann, aber in der
Poeſie von der Staͤrcke nicht geweſen, daß er dergleichen un-
gewoͤhnliche Sachen haͤtte ins Werck richten koͤnnen. Und
ich glaube dem ungeachtet doch, daß er mehr wuͤrde ausge-
richtet haben, wenn an ſeinen Verßen nichts mehr als der
Reim gefehlet haͤtte. Allein man ſehe nur folgende Probe
davon an; ſo wird mans gewahr werden. Es mag gleich
der Anfang des gantzen Gedichtes dazu dienen, davon wir im
vorigen Capitel den Grundtext geleſen haben:

Den mehr als Buͤrger-Krieg im Feld Emathiens
Gefuͤhrt, beſchreiben wir, wie Unrecht recht bekommen,
Des ſtarcken Volckes Hand voll Siegs in ſein Geweide
Verkehrt und aufgeſtellt zwey Blutsverwandte Heere
Den Bund ums Reich getrennt, mit aller Macht gekaͤmpft,
Der aufgeruͤhrten Welt zu gleicher Ungebuͤhr,
Da feindlich wieder ſich geſtoſſen Roͤmer-Fahnen,
Auf Roͤmer-Fahnen loß, auch Adler wiederſtunden
Den Adlern gleicher Art, auch Buͤrgerſpieße drehten
Sich wieder Buͤrgerſpieß.

Hier ſieht man wohl, daß außer der großen Weitlaͤuftigkeit,
womit er ſein Original ausgedruͤcket, auch ſonſt viel rauhes
und hartes mit unterlaͤuft, dadurch der Vers unangenehm
geworden waͤre, geſetzt daß er die beſten Reime von der Welt
gehabt haͤtte. Wenn alſo Lucans ungereimte Uberſetzung
nicht Beyfall gefunden, ſo folgt es deßwegen nicht, daß kein
ander Vers ohne Reime beliebt werden koͤnnte. Jch wollte
wetten, wenn Guͤnther ſich an dieſe Arbeit einmahl gewagt
haͤtte: es wuͤrde ihm zehnmahl beſſer gelungen ſeyn. Jch
ſelbſt habe einmahl einen Verſuch gethan, da ich eine Stelle
aus einem griechiſchen Poeten zu uͤberſetzen hatte, die ich gern
aufs genaueſte ausdruͤcken wollte, welches in gereimten
Verßen nicht ſo leicht angegangen waͤre. Zur Probe will
ich nur den Beſchluß derſelben aus dem I Theil des Bieder-
manns p. 167. anfuͤhren. Es iſt aber das Gebet eines heyd-
niſchen Poeten an den Jupiter.

Du gnadenreicher Zevs, du Herr der finſtern Wolcken,
Du ſtarcker Donner-Gott, begab uns mit Verſtand.
Vertilg uns Sterblichen die Thorheit aus dem Herzen,
Und lencke Sinn und Geiſt, wohin du ſelber willſt.
Fuͤr
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[313/0341] Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart. Seckendorf iſt zwar ſonſt ein gelehrter Mann, aber in der Poeſie von der Staͤrcke nicht geweſen, daß er dergleichen un- gewoͤhnliche Sachen haͤtte ins Werck richten koͤnnen. Und ich glaube dem ungeachtet doch, daß er mehr wuͤrde ausge- richtet haben, wenn an ſeinen Verßen nichts mehr als der Reim gefehlet haͤtte. Allein man ſehe nur folgende Probe davon an; ſo wird mans gewahr werden. Es mag gleich der Anfang des gantzen Gedichtes dazu dienen, davon wir im vorigen Capitel den Grundtext geleſen haben: Den mehr als Buͤrger-Krieg im Feld Emathiens Gefuͤhrt, beſchreiben wir, wie Unrecht recht bekommen, Des ſtarcken Volckes Hand voll Siegs in ſein Geweide Verkehrt und aufgeſtellt zwey Blutsverwandte Heere Den Bund ums Reich getrennt, mit aller Macht gekaͤmpft, Der aufgeruͤhrten Welt zu gleicher Ungebuͤhr, Da feindlich wieder ſich geſtoſſen Roͤmer-Fahnen, Auf Roͤmer-Fahnen loß, auch Adler wiederſtunden Den Adlern gleicher Art, auch Buͤrgerſpieße drehten Sich wieder Buͤrgerſpieß. Hier ſieht man wohl, daß außer der großen Weitlaͤuftigkeit, womit er ſein Original ausgedruͤcket, auch ſonſt viel rauhes und hartes mit unterlaͤuft, dadurch der Vers unangenehm geworden waͤre, geſetzt daß er die beſten Reime von der Welt gehabt haͤtte. Wenn alſo Lucans ungereimte Uberſetzung nicht Beyfall gefunden, ſo folgt es deßwegen nicht, daß kein ander Vers ohne Reime beliebt werden koͤnnte. Jch wollte wetten, wenn Guͤnther ſich an dieſe Arbeit einmahl gewagt haͤtte: es wuͤrde ihm zehnmahl beſſer gelungen ſeyn. Jch ſelbſt habe einmahl einen Verſuch gethan, da ich eine Stelle aus einem griechiſchen Poeten zu uͤberſetzen hatte, die ich gern aufs genaueſte ausdruͤcken wollte, welches in gereimten Verßen nicht ſo leicht angegangen waͤre. Zur Probe will ich nur den Beſchluß derſelben aus dem I Theil des Bieder- manns p. 167. anfuͤhren. Es iſt aber das Gebet eines heyd- niſchen Poeten an den Jupiter. Du gnadenreicher Zevs, du Herr der finſtern Wolcken, Du ſtarcker Donner-Gott, begab uns mit Verſtand. Vertilg uns Sterblichen die Thorheit aus dem Herzen, Und lencke Sinn und Geiſt, wohin du ſelber willſt. Fuͤr U 5

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/341>, abgerufen am 24.11.2024.