Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Das XII. Capitel
Pallas erschrack, und Jupiter selbst, der Vater der Götter
Hatte nur Abscheu davor. Schwermt, schwermt nur ihr rasenden
Pfaffen!
Opfer und Räuchwerck ist nichts, wenn tausend Laster euch drücken,
Prüfet euch selbst: Forscht Sitten und Hertz, ja Sinn und Gedancken,
Dienet ihr GOtt oder euch? Seht, wie das Gewissen euch ängstet!
Reinigt den Geist, sucht Weisheit und Zucht, lernt alles erdulden,
Dämpft erst tapfer und frisch die eignen Begierden und Lüste,
Dann zeigt andern den Weg und lehrt sie tugendhafft wandeln,
Nüchtern, gerecht, großmüthig und milde sein Leben erfüllen,
Dann wird die Ehre der Weisheit bestehn, dann wird man bekennen,
Daß ihr durch Klugheit und Witz vor Barbarn den Vorzug ge-
wonnen.

Jch weiß wohl, daß dieses deutschen Ohren noch ziemlich
fremde und unangenehm klingen wird. Allein denen die ei-
nen lateinischen Vers Virgils oder Horatii in dergleichen
Sylbenmaaß ohn alle Reime schön finden, ist es in Wahr-
heit eine Schande, wenn sie eben diesen majestätischen Wohl-
klang, den sie dort bewundern, nur im deutschen, entweder
nicht hören, oder doch verwerfen wollen. Meines Erach-
tens fehlt nichts mehr, als daß einmahl ein glücklicher Kopf,
dem es weder an Gelehrsamkeit noch an Witz, noch an Stär-
cke in seiner Sprache fehlt, auf die Gedancken geräth, eine
solche Art von Gedichten zu schreiben und sie mit allen Schön-
heiten auszuschmücken, deren sonst eine poetische Schrifft
außer den Reimen fähig ist. Denn wie ein Milton in En-
gelland ein gantz Heldengedicht ohn alle Reime hat schreiben
können, welches itzt bey der gantzen Nation Beyfall findet:
So wäre es ja auch im deutschen nicht unmöglich, daß ein
großer Geist was neues in Schwang brächte. Jch bin ver-
sichert, wenn uns nur Opitz etliche Exempel von der Art ge-
lassen hätte, man würde ihm ohn alles Bedencken häufig
darinn gefolget seyn.

Vielleicht denckt jemand, dieses sey ja schon, was die
ungereimten Verße anlanget, versuchet worden; da uns
Veit Ludewig von Seckendorf Lucans Pharsalischen Krieg
auf diese Art ins deutsche übersetzt: Allein man habe auch
wohl aus der Erfahrung gesehen, daß diese Neuerung weder
Beyfall noch Nachfolger gefunden. Jch antworte hierauf:

Se-
Das XII. Capitel
Pallas erſchrack, und Jupiter ſelbſt, der Vater der Goͤtter
Hatte nur Abſcheu davor. Schwermt, ſchwermt nur ihr raſenden
Pfaffen!
Opfer und Raͤuchwerck iſt nichts, wenn tauſend Laſter euch druͤcken,
Pruͤfet euch ſelbſt: Forſcht Sitten und Hertz, ja Sinn und Gedancken,
Dienet ihr GOtt oder euch? Seht, wie das Gewiſſen euch aͤngſtet!
Reinigt den Geiſt, ſucht Weisheit und Zucht, lernt alles erdulden,
Daͤmpft erſt tapfer und friſch die eignen Begierden und Luͤſte,
Dann zeigt andern den Weg und lehrt ſie tugendhafft wandeln,
Nuͤchtern, gerecht, großmuͤthig und milde ſein Leben erfuͤllen,
Dann wird die Ehre der Weisheit beſtehn, dann wird man bekennen,
Daß ihr durch Klugheit und Witz vor Barbarn den Vorzug ge-
wonnen.

Jch weiß wohl, daß dieſes deutſchen Ohren noch ziemlich
fremde und unangenehm klingen wird. Allein denen die ei-
nen lateiniſchen Vers Virgils oder Horatii in dergleichen
Sylbenmaaß ohn alle Reime ſchoͤn finden, iſt es in Wahr-
heit eine Schande, wenn ſie eben dieſen majeſtaͤtiſchen Wohl-
klang, den ſie dort bewundern, nur im deutſchen, entweder
nicht hoͤren, oder doch verwerfen wollen. Meines Erach-
tens fehlt nichts mehr, als daß einmahl ein gluͤcklicher Kopf,
dem es weder an Gelehrſamkeit noch an Witz, noch an Staͤr-
cke in ſeiner Sprache fehlt, auf die Gedancken geraͤth, eine
ſolche Art von Gedichten zu ſchreiben und ſie mit allen Schoͤn-
heiten auszuſchmuͤcken, deren ſonſt eine poetiſche Schrifft
außer den Reimen faͤhig iſt. Denn wie ein Milton in En-
gelland ein gantz Heldengedicht ohn alle Reime hat ſchreiben
koͤnnen, welches itzt bey der gantzen Nation Beyfall findet:
So waͤre es ja auch im deutſchen nicht unmoͤglich, daß ein
großer Geiſt was neues in Schwang braͤchte. Jch bin ver-
ſichert, wenn uns nur Opitz etliche Exempel von der Art ge-
laſſen haͤtte, man wuͤrde ihm ohn alles Bedencken haͤufig
darinn gefolget ſeyn.

Vielleicht denckt jemand, dieſes ſey ja ſchon, was die
ungereimten Verße anlanget, verſuchet worden; da uns
Veit Ludewig von Seckendorf Lucans Pharſaliſchen Krieg
auf dieſe Art ins deutſche uͤberſetzt: Allein man habe auch
wohl aus der Erfahrung geſehen, daß dieſe Neuerung weder
Beyfall noch Nachfolger gefunden. Jch antworte hierauf:

Se-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0340" n="312"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">XII.</hi> Capitel</hi> </fw><lb/>
            <l>Pallas er&#x017F;chrack, und Jupiter &#x017F;elb&#x017F;t, der Vater der Go&#x0364;tter</l><lb/>
            <l>Hatte nur Ab&#x017F;cheu davor. Schwermt, &#x017F;chwermt nur ihr ra&#x017F;enden</l><lb/>
            <l> <hi rendition="#et">Pfaffen!</hi> </l><lb/>
            <l>Opfer und Ra&#x0364;uchwerck i&#x017F;t nichts, wenn tau&#x017F;end La&#x017F;ter euch dru&#x0364;cken,</l><lb/>
            <l>Pru&#x0364;fet euch &#x017F;elb&#x017F;t: For&#x017F;cht Sitten und Hertz, ja Sinn und Gedancken,</l><lb/>
            <l>Dienet ihr GOtt oder euch? Seht, wie das Gewi&#x017F;&#x017F;en euch a&#x0364;ng&#x017F;tet!</l><lb/>
            <l>Reinigt den Gei&#x017F;t, &#x017F;ucht Weisheit und Zucht, lernt alles erdulden,</l><lb/>
            <l>Da&#x0364;mpft er&#x017F;t tapfer und fri&#x017F;ch die eignen Begierden und Lu&#x0364;&#x017F;te,</l><lb/>
            <l>Dann zeigt andern den Weg und lehrt &#x017F;ie tugendhafft wandeln,</l><lb/>
            <l>Nu&#x0364;chtern, gerecht, großmu&#x0364;thig und milde &#x017F;ein Leben erfu&#x0364;llen,</l><lb/>
            <l>Dann wird die Ehre der Weisheit be&#x017F;tehn, dann wird man bekennen,</l><lb/>
            <l>Daß ihr durch Klugheit und Witz vor Barbarn den Vorzug ge-</l><lb/>
            <l> <hi rendition="#et">wonnen.</hi> </l>
          </lg><lb/>
          <p>Jch weiß wohl, daß die&#x017F;es deut&#x017F;chen Ohren noch ziemlich<lb/>
fremde und unangenehm klingen wird. Allein denen die ei-<lb/>
nen lateini&#x017F;chen Vers Virgils oder Horatii in dergleichen<lb/>
Sylbenmaaß ohn alle Reime &#x017F;cho&#x0364;n finden, i&#x017F;t es in Wahr-<lb/>
heit eine Schande, wenn &#x017F;ie eben die&#x017F;en maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;chen Wohl-<lb/>
klang, den &#x017F;ie dort bewundern, nur im deut&#x017F;chen, entweder<lb/>
nicht ho&#x0364;ren, oder doch verwerfen wollen. Meines Erach-<lb/>
tens fehlt nichts mehr, als daß einmahl ein glu&#x0364;cklicher Kopf,<lb/>
dem es weder an Gelehr&#x017F;amkeit noch an Witz, noch an Sta&#x0364;r-<lb/>
cke in &#x017F;einer Sprache fehlt, auf die Gedancken gera&#x0364;th, eine<lb/>
&#x017F;olche Art von Gedichten zu &#x017F;chreiben und &#x017F;ie mit allen Scho&#x0364;n-<lb/>
heiten auszu&#x017F;chmu&#x0364;cken, deren &#x017F;on&#x017F;t eine poeti&#x017F;che Schrifft<lb/>
außer den Reimen fa&#x0364;hig i&#x017F;t. Denn wie ein Milton in En-<lb/>
gelland ein gantz Heldengedicht ohn alle Reime hat &#x017F;chreiben<lb/>
ko&#x0364;nnen, welches itzt bey der gantzen Nation Beyfall findet:<lb/>
So wa&#x0364;re es ja auch im deut&#x017F;chen nicht unmo&#x0364;glich, daß ein<lb/>
großer Gei&#x017F;t was neues in Schwang bra&#x0364;chte. Jch bin ver-<lb/>
&#x017F;ichert, wenn uns nur Opitz etliche Exempel von der Art ge-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en ha&#x0364;tte, man wu&#x0364;rde ihm ohn alles Bedencken ha&#x0364;ufig<lb/>
darinn gefolget &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Vielleicht denckt jemand, die&#x017F;es &#x017F;ey ja &#x017F;chon, was die<lb/>
ungereimten Verße anlanget, ver&#x017F;uchet worden; da uns<lb/>
Veit Ludewig von Seckendorf Lucans Phar&#x017F;ali&#x017F;chen Krieg<lb/>
auf die&#x017F;e Art ins deut&#x017F;che u&#x0364;ber&#x017F;etzt: Allein man habe auch<lb/>
wohl aus der Erfahrung ge&#x017F;ehen, daß die&#x017F;e Neuerung weder<lb/>
Beyfall noch Nachfolger gefunden. Jch antworte hierauf:<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Se-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[312/0340] Das XII. Capitel Pallas erſchrack, und Jupiter ſelbſt, der Vater der Goͤtter Hatte nur Abſcheu davor. Schwermt, ſchwermt nur ihr raſenden Pfaffen! Opfer und Raͤuchwerck iſt nichts, wenn tauſend Laſter euch druͤcken, Pruͤfet euch ſelbſt: Forſcht Sitten und Hertz, ja Sinn und Gedancken, Dienet ihr GOtt oder euch? Seht, wie das Gewiſſen euch aͤngſtet! Reinigt den Geiſt, ſucht Weisheit und Zucht, lernt alles erdulden, Daͤmpft erſt tapfer und friſch die eignen Begierden und Luͤſte, Dann zeigt andern den Weg und lehrt ſie tugendhafft wandeln, Nuͤchtern, gerecht, großmuͤthig und milde ſein Leben erfuͤllen, Dann wird die Ehre der Weisheit beſtehn, dann wird man bekennen, Daß ihr durch Klugheit und Witz vor Barbarn den Vorzug ge- wonnen. Jch weiß wohl, daß dieſes deutſchen Ohren noch ziemlich fremde und unangenehm klingen wird. Allein denen die ei- nen lateiniſchen Vers Virgils oder Horatii in dergleichen Sylbenmaaß ohn alle Reime ſchoͤn finden, iſt es in Wahr- heit eine Schande, wenn ſie eben dieſen majeſtaͤtiſchen Wohl- klang, den ſie dort bewundern, nur im deutſchen, entweder nicht hoͤren, oder doch verwerfen wollen. Meines Erach- tens fehlt nichts mehr, als daß einmahl ein gluͤcklicher Kopf, dem es weder an Gelehrſamkeit noch an Witz, noch an Staͤr- cke in ſeiner Sprache fehlt, auf die Gedancken geraͤth, eine ſolche Art von Gedichten zu ſchreiben und ſie mit allen Schoͤn- heiten auszuſchmuͤcken, deren ſonſt eine poetiſche Schrifft außer den Reimen faͤhig iſt. Denn wie ein Milton in En- gelland ein gantz Heldengedicht ohn alle Reime hat ſchreiben koͤnnen, welches itzt bey der gantzen Nation Beyfall findet: So waͤre es ja auch im deutſchen nicht unmoͤglich, daß ein großer Geiſt was neues in Schwang braͤchte. Jch bin ver- ſichert, wenn uns nur Opitz etliche Exempel von der Art ge- laſſen haͤtte, man wuͤrde ihm ohn alles Bedencken haͤufig darinn gefolget ſeyn. Vielleicht denckt jemand, dieſes ſey ja ſchon, was die ungereimten Verße anlanget, verſuchet worden; da uns Veit Ludewig von Seckendorf Lucans Pharſaliſchen Krieg auf dieſe Art ins deutſche uͤberſetzt: Allein man habe auch wohl aus der Erfahrung geſehen, daß dieſe Neuerung weder Beyfall noch Nachfolger gefunden. Jch antworte hierauf: Se-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/340
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/340>, abgerufen am 25.08.2024.