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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XII. Capitel
jambischen oder trocheischen Verßen gebraucht. Sie klin-
gen an sich selbst sehr lustig und springend: und sind daher zur
Abwechselung in Cantaten, oder andern musicalischen Stü-
cken bisweilen sehr bequem; zumahl wenn man gewisse heff-
tige Affecten dadurch auszudrücken Gelegenheit hat. Doch
die Wahrheit zu sagen, sind sie außer diesen Fällen vor unsre
männliche Sprache ein wenig zu kindisch, ob sie gleich dem
Frauenzimmer und jungen Leuten sehr zu gefallen pflegen.
Zur Noth könnten sie dienen, den Jtalienern, die sich auf die
Zärtlichkeit ihrer Sprache soviel einbilden, zu zeigen, daß
man bey uns ebensowohl fließende und liebliche Sylben zu-
sammen bringen könne, die einem Sänger gleichsam von sich
selbst über die Zunge weglaufen. Man müste sich aber als-
dann mit Fleiß aller rasselnden und rauschenden Wörter ent-
halten; hergegen viele von den lautenden und andern gelin-
dern Buchstaben, als b, d, f, l, m, n, w, anzubringen suchen,
als welche einer Zeile eine große Gelindigkeit und Lieblichkeit
zuwege bringen. Sonst werden sie insgemein in steigende
und fallende eingetheilet; davon diese ordentlicher Weise
mit einer langen Sylbe anfangen, jene hergegen vor dersel-
ben noch eine kurtze haben. Kurtz die Steigenden sehen im An-
fange jambischen, die Fallenden aber trochäischen Verßen
ähnlich.

Was wird aber von den Anapästischen Verßen bey uns
Deutschen zu halten seyn? Ein Anapäst ist ein umgekehrter
Dactylus, und läst die eine lange Sylbe auf zwey kurtze fol-
gen. Sie kommen selten vor, sind aber übrigens eben so
leicht und eben so schwer als die Dactylischen: Es kommt da-
bey alles auf die beyden ersten Sylben an, womit sich jede
Zeile anfängt. Wiewohl man könnte sich gar leicht ohne
dieselben behelfen.

Ein jeder begreift wohl von sich selbst daß man aus Ver-
mischung der bisher erzehlten Arten des Sylbenmaaßes noch
unzehliche neuere Gattungen erfinden könnte. Es ist auch
solches, sonderlich in Singspielen, vielmahls mit gutem
Fortgange versuchet werden, wenn man in Arien jambische
trocheische und dactylische Füsse durcheinander gemischt, und

dem

Das XII. Capitel
jambiſchen oder trocheiſchen Verßen gebraucht. Sie klin-
gen an ſich ſelbſt ſehr luſtig und ſpringend: und ſind daher zur
Abwechſelung in Cantaten, oder andern muſicaliſchen Stuͤ-
cken bisweilen ſehr bequem; zumahl wenn man gewiſſe heff-
tige Affecten dadurch auszudruͤcken Gelegenheit hat. Doch
die Wahrheit zu ſagen, ſind ſie außer dieſen Faͤllen vor unſre
maͤnnliche Sprache ein wenig zu kindiſch, ob ſie gleich dem
Frauenzimmer und jungen Leuten ſehr zu gefallen pflegen.
Zur Noth koͤnnten ſie dienen, den Jtalienern, die ſich auf die
Zaͤrtlichkeit ihrer Sprache ſoviel einbilden, zu zeigen, daß
man bey uns ebenſowohl fließende und liebliche Sylben zu-
ſammen bringen koͤnne, die einem Saͤnger gleichſam von ſich
ſelbſt uͤber die Zunge weglaufen. Man muͤſte ſich aber als-
dann mit Fleiß aller raſſelnden und rauſchenden Woͤrter ent-
halten; hergegen viele von den lautenden und andern gelin-
dern Buchſtaben, als b, d, f, l, m, n, w, anzubringen ſuchen,
als welche einer Zeile eine große Gelindigkeit und Lieblichkeit
zuwege bringen. Sonſt werden ſie insgemein in ſteigende
und fallende eingetheilet; davon dieſe ordentlicher Weiſe
mit einer langen Sylbe anfangen, jene hergegen vor derſel-
ben noch eine kurtze haben. Kurtz die Steigenden ſehen im An-
fange jambiſchen, die Fallenden aber trochaͤiſchen Verßen
aͤhnlich.

Was wird aber von den Anapaͤſtiſchen Verßen bey uns
Deutſchen zu halten ſeyn? Ein Anapaͤſt iſt ein umgekehrter
Dactylus, und laͤſt die eine lange Sylbe auf zwey kurtze fol-
gen. Sie kommen ſelten vor, ſind aber uͤbrigens eben ſo
leicht und eben ſo ſchwer als die Dactyliſchen: Es kommt da-
bey alles auf die beyden erſten Sylben an, womit ſich jede
Zeile anfaͤngt. Wiewohl man koͤnnte ſich gar leicht ohne
dieſelben behelfen.

Ein jeder begreift wohl von ſich ſelbſt daß man aus Ver-
miſchung der bisher erzehlten Arten des Sylbenmaaßes noch
unzehliche neuere Gattungen erfinden koͤnnte. Es iſt auch
ſolches, ſonderlich in Singſpielen, vielmahls mit gutem
Fortgange verſuchet werden, wenn man in Arien jambiſche
trocheiſche und dactyliſche Fuͤſſe durcheinander gemiſcht, und

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[310/0338] Das XII. Capitel jambiſchen oder trocheiſchen Verßen gebraucht. Sie klin- gen an ſich ſelbſt ſehr luſtig und ſpringend: und ſind daher zur Abwechſelung in Cantaten, oder andern muſicaliſchen Stuͤ- cken bisweilen ſehr bequem; zumahl wenn man gewiſſe heff- tige Affecten dadurch auszudruͤcken Gelegenheit hat. Doch die Wahrheit zu ſagen, ſind ſie außer dieſen Faͤllen vor unſre maͤnnliche Sprache ein wenig zu kindiſch, ob ſie gleich dem Frauenzimmer und jungen Leuten ſehr zu gefallen pflegen. Zur Noth koͤnnten ſie dienen, den Jtalienern, die ſich auf die Zaͤrtlichkeit ihrer Sprache ſoviel einbilden, zu zeigen, daß man bey uns ebenſowohl fließende und liebliche Sylben zu- ſammen bringen koͤnne, die einem Saͤnger gleichſam von ſich ſelbſt uͤber die Zunge weglaufen. Man muͤſte ſich aber als- dann mit Fleiß aller raſſelnden und rauſchenden Woͤrter ent- halten; hergegen viele von den lautenden und andern gelin- dern Buchſtaben, als b, d, f, l, m, n, w, anzubringen ſuchen, als welche einer Zeile eine große Gelindigkeit und Lieblichkeit zuwege bringen. Sonſt werden ſie insgemein in ſteigende und fallende eingetheilet; davon dieſe ordentlicher Weiſe mit einer langen Sylbe anfangen, jene hergegen vor derſel- ben noch eine kurtze haben. Kurtz die Steigenden ſehen im An- fange jambiſchen, die Fallenden aber trochaͤiſchen Verßen aͤhnlich. Was wird aber von den Anapaͤſtiſchen Verßen bey uns Deutſchen zu halten ſeyn? Ein Anapaͤſt iſt ein umgekehrter Dactylus, und laͤſt die eine lange Sylbe auf zwey kurtze fol- gen. Sie kommen ſelten vor, ſind aber uͤbrigens eben ſo leicht und eben ſo ſchwer als die Dactyliſchen: Es kommt da- bey alles auf die beyden erſten Sylben an, womit ſich jede Zeile anfaͤngt. Wiewohl man koͤnnte ſich gar leicht ohne dieſelben behelfen. Ein jeder begreift wohl von ſich ſelbſt daß man aus Ver- miſchung der bisher erzehlten Arten des Sylbenmaaßes noch unzehliche neuere Gattungen erfinden koͤnnte. Es iſt auch ſolches, ſonderlich in Singſpielen, vielmahls mit gutem Fortgange verſuchet werden, wenn man in Arien jambiſche trocheiſche und dactyliſche Fuͤſſe durcheinander gemiſcht, und dem

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/338>, abgerufen am 24.11.2024.