Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Das XII. Capitel
weitläuftiger erwiesen, und von etlichen kleinen Einwürfen
befreyet werden, wenn ich eine Lateinische Prosodie zu schrei-
ben im Sinne hätte.

Unter den vielfältigen Gattungen des Sylbenmaaßes,
die von Griechen und Lateinern erdacht und gebraucht wor-
den, ist zwar keine einzige, die sich nicht auch in unsrer, ja
in allen andern Sprachen nachmachen liessen. Wir, und
alle übrige Völcker haben lange und kurtze Sylben, die sich
in ungebundner Rede auf tausendfältige Art durch einan-
der mischen lassen. Was hindert es denn, daß wir dieselbe
nicht auch auf eine einträchtige Art, nach einer beliebig-an-
genommenen Regel sollten verwechseln können? Es habens
auch viele unsrer Poeten versucht, allerley Horatianische
Gattungen von Oden nachzumachen; wie denn das geistliche
Lied, hertzliebster JEsu, davon zeigen kan, welches eine Sap-
phische Art von Verßen ist. Allein, daß sie nicht Beyfall
und Nachfolger gefunden, kommt meines Erachtens daher,
weil die Harmonie der gar zu gekünstelten Abwechselungen
der Füsse nicht so leicht ins Gehör fällt; und man auch im la-
teinischen Mühe hat, eine ungewöhnliche Art von Verßen
recht zu scandiren.

Man ist also im deutschen vor Alters fast bey den jambi-
schen Verßen allein geblieben; weil selbige unsrer Sprache
am natürlichsten sind. Die Vorwörter vor den Nennwör-
tern, und die Artickel vor den Hauptwörtern geben lauter
steigende Zeilen an die Hand, so vieler tausend zusammenge-
setzter Wörter, deren unsre Sprache voll ist, nicht zu geden-
cken, die ordentlich von forne mit einer kurzen Sylbe verlän-
gert werden, und also Jamben ausmachen. Z. E. Erheben,
gestorben, verlangen, besonders, entkräfften, unmöglich,
ausführlich u. s. w. Daß nun dergleichen Verße vor Alters
in Deutschland entweder mit Fleiß oder von ungefehr nach
dem bloßen Gehör gemachet worden, habe ich bereits oben im
ersten Capitel aus Luthers Liedern, ja aus Winsbecks Er-
mahnung an seinen Sohn erwiesen. Ja man findet auch wohl
in ältern Poeten unsers Vaterlandes die Spuren davon.

Die Trocheischen sind zwar so sehr nicht Mode gewor-

den,

Das XII. Capitel
weitlaͤuftiger erwieſen, und von etlichen kleinen Einwuͤrfen
befreyet werden, wenn ich eine Lateiniſche Proſodie zu ſchrei-
ben im Sinne haͤtte.

Unter den vielfaͤltigen Gattungen des Sylbenmaaßes,
die von Griechen und Lateinern erdacht und gebraucht wor-
den, iſt zwar keine einzige, die ſich nicht auch in unſrer, ja
in allen andern Sprachen nachmachen lieſſen. Wir, und
alle uͤbrige Voͤlcker haben lange und kurtze Sylben, die ſich
in ungebundner Rede auf tauſendfaͤltige Art durch einan-
der miſchen laſſen. Was hindert es denn, daß wir dieſelbe
nicht auch auf eine eintraͤchtige Art, nach einer beliebig-an-
genommenen Regel ſollten verwechſeln koͤnnen? Es habens
auch viele unſrer Poeten verſucht, allerley Horatianiſche
Gattungen von Oden nachzumachen; wie denn das geiſtliche
Lied, hertzliebſter JEſu, davon zeigen kan, welches eine Sap-
phiſche Art von Verßen iſt. Allein, daß ſie nicht Beyfall
und Nachfolger gefunden, kommt meines Erachtens daher,
weil die Harmonie der gar zu gekuͤnſtelten Abwechſelungen
der Fuͤſſe nicht ſo leicht ins Gehoͤr faͤllt; und man auch im la-
teiniſchen Muͤhe hat, eine ungewoͤhnliche Art von Verßen
recht zu ſcandiren.

Man iſt alſo im deutſchen vor Alters faſt bey den jambi-
ſchen Verßen allein geblieben; weil ſelbige unſrer Sprache
am natuͤrlichſten ſind. Die Vorwoͤrter vor den Nennwoͤr-
tern, und die Artickel vor den Hauptwoͤrtern geben lauter
ſteigende Zeilen an die Hand, ſo vieler tauſend zuſammenge-
ſetzter Woͤrter, deren unſre Sprache voll iſt, nicht zu geden-
cken, die ordentlich von forne mit einer kurzen Sylbe verlaͤn-
gert werden, und alſo Jamben ausmachen. Z. E. Erheben,
geſtorben, verlangen, beſonders, entkraͤfften, unmoͤglich,
ausfuͤhrlich u. ſ. w. Daß nun dergleichen Verße vor Alters
in Deutſchland entweder mit Fleiß oder von ungefehr nach
dem bloßen Gehoͤr gemachet worden, habe ich bereits oben im
erſten Capitel aus Luthers Liedern, ja aus Winsbecks Er-
mahnung an ſeinen Sohn erwieſen. Ja man findet auch wohl
in aͤltern Poeten unſers Vaterlandes die Spuren davon.

Die Trocheiſchen ſind zwar ſo ſehr nicht Mode gewor-

den,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0336" n="308"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">XII.</hi> Capitel</hi></fw><lb/>
weitla&#x0364;uftiger erwie&#x017F;en, und von etlichen kleinen Einwu&#x0364;rfen<lb/>
befreyet werden, wenn ich eine Lateini&#x017F;che Pro&#x017F;odie zu &#x017F;chrei-<lb/>
ben im Sinne ha&#x0364;tte.</p><lb/>
          <p>Unter den vielfa&#x0364;ltigen Gattungen des Sylbenmaaßes,<lb/>
die von Griechen und Lateinern erdacht und gebraucht wor-<lb/>
den, i&#x017F;t zwar keine einzige, die &#x017F;ich nicht auch in un&#x017F;rer, ja<lb/>
in allen andern Sprachen nachmachen lie&#x017F;&#x017F;en. Wir, und<lb/>
alle u&#x0364;brige Vo&#x0364;lcker haben lange und kurtze Sylben, die &#x017F;ich<lb/>
in ungebundner Rede auf tau&#x017F;endfa&#x0364;ltige Art durch einan-<lb/>
der mi&#x017F;chen la&#x017F;&#x017F;en. Was hindert es denn, daß wir die&#x017F;elbe<lb/>
nicht auch auf eine eintra&#x0364;chtige Art, nach einer beliebig-an-<lb/>
genommenen Regel &#x017F;ollten verwech&#x017F;eln ko&#x0364;nnen? Es habens<lb/>
auch viele un&#x017F;rer Poeten ver&#x017F;ucht, allerley Horatiani&#x017F;che<lb/>
Gattungen von Oden nachzumachen; wie denn das gei&#x017F;tliche<lb/>
Lied, hertzlieb&#x017F;ter JE&#x017F;u, davon zeigen kan, welches eine Sap-<lb/>
phi&#x017F;che Art von Verßen i&#x017F;t. Allein, daß &#x017F;ie nicht Beyfall<lb/>
und Nachfolger gefunden, kommt meines Erachtens daher,<lb/>
weil die Harmonie der gar zu geku&#x0364;n&#x017F;telten Abwech&#x017F;elungen<lb/>
der Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e nicht &#x017F;o leicht ins Geho&#x0364;r fa&#x0364;llt; und man auch im la-<lb/>
teini&#x017F;chen Mu&#x0364;he hat, eine ungewo&#x0364;hnliche Art von Verßen<lb/>
recht zu &#x017F;candiren.</p><lb/>
          <p>Man i&#x017F;t al&#x017F;o im deut&#x017F;chen vor Alters fa&#x017F;t bey den jambi-<lb/>
&#x017F;chen Verßen allein geblieben; weil &#x017F;elbige un&#x017F;rer Sprache<lb/>
am natu&#x0364;rlich&#x017F;ten &#x017F;ind. Die Vorwo&#x0364;rter vor den Nennwo&#x0364;r-<lb/>
tern, und die Artickel vor den Hauptwo&#x0364;rtern geben lauter<lb/>
&#x017F;teigende Zeilen an die Hand, &#x017F;o vieler tau&#x017F;end zu&#x017F;ammenge-<lb/>
&#x017F;etzter Wo&#x0364;rter, deren un&#x017F;re Sprache voll i&#x017F;t, nicht zu geden-<lb/>
cken, die ordentlich von forne mit einer kurzen Sylbe verla&#x0364;n-<lb/>
gert werden, und al&#x017F;o Jamben ausmachen. Z. E. Erheben,<lb/>
ge&#x017F;torben, verlangen, be&#x017F;onders, entkra&#x0364;fften, unmo&#x0364;glich,<lb/>
ausfu&#x0364;hrlich u. &#x017F;. w. Daß nun dergleichen Verße vor Alters<lb/>
in Deut&#x017F;chland entweder mit Fleiß oder von ungefehr nach<lb/>
dem bloßen Geho&#x0364;r gemachet worden, habe ich bereits oben im<lb/>
er&#x017F;ten Capitel aus Luthers Liedern, ja aus Winsbecks Er-<lb/>
mahnung an &#x017F;einen Sohn erwie&#x017F;en. Ja man findet auch wohl<lb/>
in a&#x0364;ltern Poeten un&#x017F;ers Vaterlandes die Spuren davon.</p><lb/>
          <p>Die Trochei&#x017F;chen &#x017F;ind zwar &#x017F;o &#x017F;ehr nicht Mode gewor-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[308/0336] Das XII. Capitel weitlaͤuftiger erwieſen, und von etlichen kleinen Einwuͤrfen befreyet werden, wenn ich eine Lateiniſche Proſodie zu ſchrei- ben im Sinne haͤtte. Unter den vielfaͤltigen Gattungen des Sylbenmaaßes, die von Griechen und Lateinern erdacht und gebraucht wor- den, iſt zwar keine einzige, die ſich nicht auch in unſrer, ja in allen andern Sprachen nachmachen lieſſen. Wir, und alle uͤbrige Voͤlcker haben lange und kurtze Sylben, die ſich in ungebundner Rede auf tauſendfaͤltige Art durch einan- der miſchen laſſen. Was hindert es denn, daß wir dieſelbe nicht auch auf eine eintraͤchtige Art, nach einer beliebig-an- genommenen Regel ſollten verwechſeln koͤnnen? Es habens auch viele unſrer Poeten verſucht, allerley Horatianiſche Gattungen von Oden nachzumachen; wie denn das geiſtliche Lied, hertzliebſter JEſu, davon zeigen kan, welches eine Sap- phiſche Art von Verßen iſt. Allein, daß ſie nicht Beyfall und Nachfolger gefunden, kommt meines Erachtens daher, weil die Harmonie der gar zu gekuͤnſtelten Abwechſelungen der Fuͤſſe nicht ſo leicht ins Gehoͤr faͤllt; und man auch im la- teiniſchen Muͤhe hat, eine ungewoͤhnliche Art von Verßen recht zu ſcandiren. Man iſt alſo im deutſchen vor Alters faſt bey den jambi- ſchen Verßen allein geblieben; weil ſelbige unſrer Sprache am natuͤrlichſten ſind. Die Vorwoͤrter vor den Nennwoͤr- tern, und die Artickel vor den Hauptwoͤrtern geben lauter ſteigende Zeilen an die Hand, ſo vieler tauſend zuſammenge- ſetzter Woͤrter, deren unſre Sprache voll iſt, nicht zu geden- cken, die ordentlich von forne mit einer kurzen Sylbe verlaͤn- gert werden, und alſo Jamben ausmachen. Z. E. Erheben, geſtorben, verlangen, beſonders, entkraͤfften, unmoͤglich, ausfuͤhrlich u. ſ. w. Daß nun dergleichen Verße vor Alters in Deutſchland entweder mit Fleiß oder von ungefehr nach dem bloßen Gehoͤr gemachet worden, habe ich bereits oben im erſten Capitel aus Luthers Liedern, ja aus Winsbecks Er- mahnung an ſeinen Sohn erwieſen. Ja man findet auch wohl in aͤltern Poeten unſers Vaterlandes die Spuren davon. Die Trocheiſchen ſind zwar ſo ſehr nicht Mode gewor- den,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/336
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/336>, abgerufen am 24.11.2024.