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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wohlklange der poetischen Schreibart.
Beschaffenheit der dazu gehörigen Melodie auch eine ge-
wisse Abwechselung kurtzer und langer Sylben gehörete.
Dieses bemerckten diejenigen am ersten, die das zärteste
Gehör hatten, und es unangenehm fanden, wenn auf eine
Sylbe, dahin der Accent fiel, eine kurtze Note, auf eine
kurtze Sylbe hergegen, die man in der Aussprache fast nicht
hörete, im Singen eine lange Note traf. Wer da wissen
will, wie seltsam dieses klinget, darf sich nur von einem
Franzosen ein paar Liederchen vorsingen lassen. Wer
sonst ihres Singens nicht gewohnt ist, wird ihnen fast kei-
ne Zeile verstehen können, ob er sie gleich sonst im Reden
versteht: und das kommt daher, weil ihre Poesie von kei-
ner regelmäßigen Abwechselung langer und kurtzer Sylben
weiß. Da muß es nun nothwendig geschehen, daß ein gantz
kurtzes E zuweilen sehr lang ausgedehnet, eine sehr lange
Sylbe hingegen geschwinde überhüpfet oder verschlucket
wird. Was das vor eine Undeutlichkeit in der Ausspra-
che machet, ist nicht zu sagen: man muß es aber selbst hö-
ren, wenn man es recht völlig begreifen will. Bey dem
allen wollen die guten Leute nicht begreifen, daß ihre Spra-
che lange und kurtze Sylben habe. Auch Rollin in seinem
so berühmten Wercke, so er neulich von der Poesie und an-
dern freyen Künsten heraus gegeben, gesteht zwar Jtaliä-
nern und Spaniern zu, daß sie Verse ohne Reime machen
könnten; weil sie nehmlich noch etwas von der alten Art
der Lateinischen Sprache in ihren Mundarten beybehalten
hätten, dadurch sie geschickt wären, einen gewissen harmoni-
schen Klang in ihre Verse zu bringen. Aber seinen Fran-
zosen, meynt er, sey es nicht möglich Verse ohne Reime zu
dulden, weil sie lauter gleich lange Sylben in ihrer Spra-
che hätten, und keine Accente im Reden hören liessen. Jch
glaube, man kan halb taub seyn, und doch den Herren Rollin
aus dem blossen Gehör wiederlegen. Z. E. die erste Zeile
aus des Boileau Ode auf die Eroberung Namurs:

Quelle docte & sainte yvresse!

Wird von allen Franzosen als eine jambische Zeile von vier

Füs-
U

Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
Beſchaffenheit der dazu gehoͤrigen Melodie auch eine ge-
wiſſe Abwechſelung kurtzer und langer Sylben gehoͤrete.
Dieſes bemerckten diejenigen am erſten, die das zaͤrteſte
Gehoͤr hatten, und es unangenehm fanden, wenn auf eine
Sylbe, dahin der Accent fiel, eine kurtze Note, auf eine
kurtze Sylbe hergegen, die man in der Ausſprache faſt nicht
hoͤrete, im Singen eine lange Note traf. Wer da wiſſen
will, wie ſeltſam dieſes klinget, darf ſich nur von einem
Franzoſen ein paar Liederchen vorſingen laſſen. Wer
ſonſt ihres Singens nicht gewohnt iſt, wird ihnen faſt kei-
ne Zeile verſtehen koͤnnen, ob er ſie gleich ſonſt im Reden
verſteht: und das kommt daher, weil ihre Poeſie von kei-
ner regelmaͤßigen Abwechſelung langer und kurtzer Sylben
weiß. Da muß es nun nothwendig geſchehen, daß ein gantz
kurtzes E zuweilen ſehr lang ausgedehnet, eine ſehr lange
Sylbe hingegen geſchwinde uͤberhuͤpfet oder verſchlucket
wird. Was das vor eine Undeutlichkeit in der Ausſpra-
che machet, iſt nicht zu ſagen: man muß es aber ſelbſt hoͤ-
ren, wenn man es recht voͤllig begreifen will. Bey dem
allen wollen die guten Leute nicht begreifen, daß ihre Spra-
che lange und kurtze Sylben habe. Auch Rollin in ſeinem
ſo beruͤhmten Wercke, ſo er neulich von der Poeſie und an-
dern freyen Kuͤnſten heraus gegeben, geſteht zwar Jtaliaͤ-
nern und Spaniern zu, daß ſie Verſe ohne Reime machen
koͤnnten; weil ſie nehmlich noch etwas von der alten Art
der Lateiniſchen Sprache in ihren Mundarten beybehalten
haͤtten, dadurch ſie geſchickt waͤren, einen gewiſſen harmoni-
ſchen Klang in ihre Verſe zu bringen. Aber ſeinen Fran-
zoſen, meynt er, ſey es nicht moͤglich Verſe ohne Reime zu
dulden, weil ſie lauter gleich lange Sylben in ihrer Spra-
che haͤtten, und keine Accente im Reden hoͤren lieſſen. Jch
glaube, man kan halb taub ſeyn, und doch den Herren Rollin
aus dem bloſſen Gehoͤr wiederlegen. Z. E. die erſte Zeile
aus des Boileau Ode auf die Eroberung Namurs:

Quelle docte & ſainte yvreſſe!

Wird von allen Franzoſen als eine jambiſche Zeile von vier

Fuͤſ-
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[305/0333] Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart. Beſchaffenheit der dazu gehoͤrigen Melodie auch eine ge- wiſſe Abwechſelung kurtzer und langer Sylben gehoͤrete. Dieſes bemerckten diejenigen am erſten, die das zaͤrteſte Gehoͤr hatten, und es unangenehm fanden, wenn auf eine Sylbe, dahin der Accent fiel, eine kurtze Note, auf eine kurtze Sylbe hergegen, die man in der Ausſprache faſt nicht hoͤrete, im Singen eine lange Note traf. Wer da wiſſen will, wie ſeltſam dieſes klinget, darf ſich nur von einem Franzoſen ein paar Liederchen vorſingen laſſen. Wer ſonſt ihres Singens nicht gewohnt iſt, wird ihnen faſt kei- ne Zeile verſtehen koͤnnen, ob er ſie gleich ſonſt im Reden verſteht: und das kommt daher, weil ihre Poeſie von kei- ner regelmaͤßigen Abwechſelung langer und kurtzer Sylben weiß. Da muß es nun nothwendig geſchehen, daß ein gantz kurtzes E zuweilen ſehr lang ausgedehnet, eine ſehr lange Sylbe hingegen geſchwinde uͤberhuͤpfet oder verſchlucket wird. Was das vor eine Undeutlichkeit in der Ausſpra- che machet, iſt nicht zu ſagen: man muß es aber ſelbſt hoͤ- ren, wenn man es recht voͤllig begreifen will. Bey dem allen wollen die guten Leute nicht begreifen, daß ihre Spra- che lange und kurtze Sylben habe. Auch Rollin in ſeinem ſo beruͤhmten Wercke, ſo er neulich von der Poeſie und an- dern freyen Kuͤnſten heraus gegeben, geſteht zwar Jtaliaͤ- nern und Spaniern zu, daß ſie Verſe ohne Reime machen koͤnnten; weil ſie nehmlich noch etwas von der alten Art der Lateiniſchen Sprache in ihren Mundarten beybehalten haͤtten, dadurch ſie geſchickt waͤren, einen gewiſſen harmoni- ſchen Klang in ihre Verſe zu bringen. Aber ſeinen Fran- zoſen, meynt er, ſey es nicht moͤglich Verſe ohne Reime zu dulden, weil ſie lauter gleich lange Sylben in ihrer Spra- che haͤtten, und keine Accente im Reden hoͤren lieſſen. Jch glaube, man kan halb taub ſeyn, und doch den Herren Rollin aus dem bloſſen Gehoͤr wiederlegen. Z. E. die erſte Zeile aus des Boileau Ode auf die Eroberung Namurs: Quelle docte & ſainte yvreſſe! Wird von allen Franzoſen als eine jambiſche Zeile von vier Fuͤſ- U

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/333>, abgerufen am 24.11.2024.