weiß. Ausser obgedachten Scribenten kan man auch das III. Cap. des II. Theils meiner Redekunst nachsehen, wo im 17. §. davon gehandelt worden.
Wie nun die gebundne Schreibart eher als die unge- bundne ins Geschicke gebracht worden, also können wir auch den Wohlklang der Poesie nicht von dem Wohlklan- ge der Redner herleiten. Es ist bereits oben bey andrer Gelegenheit gedacht worden, daß Cicero das Gegentheil angemercket, wenn er erzehlt, daß Jsocrates den Poeten vieles abgelernet, was zur Lieblichkeit einer Rede was bey- tragen kan. Die Ursache setzt er auch hinzu; nemlich weil die ersten Dichter zugleich Sänger und Spielleute gewe- sen, und ihre Verse also zur Belustigung der Ohren ge- macht, so hätten sie eher auf die Harmonie zu sehen Anlaß gehabt. Die Music hilft uns also den Ursprung des poe- tischen. Wohlklanges erklären. Jch habe schon in dem er- sten Capitel erwehnet, daß die ersten Melodeyen eine gewisse Anzahl der Sylben, oder eine abgemessene Länge der Zei- len, in den Liedern erfordert; wodurch sie geschickt gewor- den, darnach abgesungen zu werden. Das war nun der allergeringste Grad des poetischen Wohlklanges, der auch bey den gröbsten Völckern statt gefunden. Es ist aber gleichwohl dem Gehör angenehm, wenn alle Abschnitte ei- ner Rede, so nach einander folgen, fast einerley Länge ha- ben, so daß die Zunge nach gewissen bestimmten Pulsschlä- gen gleichsam zu einer periodischen Ruhe kommt. So sind die Psalmen der Hebreer, auch so gar in unsrer Deutschen U- bersetzung noch beschaffen; daher es denn kommt, daß sie auch so prosaisch nach einer gewissen freyen Melodie gesun- gen werden können. Die ältesten Griechischen Poeten ha- ben freylich ihre Sylben schon genauer nachgezehlt, als die Orientalischen; allein mehr läßt uns doch die Rauhigkeit, der alles in seinem ersten Ursprunge unterworfen ist, von ihren ersten Liedern nicht hoffen.
Der andre Grad des Wohlklanges entstund wohl da- mahls, als man bey dem Singen solcher aufs genaueste ab- gezehlten Zeilen, wahrnahm, daß in einer jeden Zeile nach
Be-
Das X. Capitel
weiß. Auſſer obgedachten Scribenten kan man auch das III. Cap. des II. Theils meiner Redekunſt nachſehen, wo im 17. §. davon gehandelt worden.
Wie nun die gebundne Schreibart eher als die unge- bundne ins Geſchicke gebracht worden, alſo koͤnnen wir auch den Wohlklang der Poeſie nicht von dem Wohlklan- ge der Redner herleiten. Es iſt bereits oben bey andrer Gelegenheit gedacht worden, daß Cicero das Gegentheil angemercket, wenn er erzehlt, daß Jſocrates den Poeten vieles abgelernet, was zur Lieblichkeit einer Rede was bey- tragen kan. Die Urſache ſetzt er auch hinzu; nemlich weil die erſten Dichter zugleich Saͤnger und Spielleute gewe- ſen, und ihre Verſe alſo zur Beluſtigung der Ohren ge- macht, ſo haͤtten ſie eher auf die Harmonie zu ſehen Anlaß gehabt. Die Muſic hilft uns alſo den Urſprung des poe- tiſchen. Wohlklanges erklaͤren. Jch habe ſchon in dem er- ſten Capitel erwehnet, daß die erſten Melodeyen eine gewiſſe Anzahl der Sylben, oder eine abgemeſſene Laͤnge der Zei- len, in den Liedern erfordert; wodurch ſie geſchickt gewor- den, darnach abgeſungen zu werden. Das war nun der allergeringſte Grad des poetiſchen Wohlklanges, der auch bey den groͤbſten Voͤlckern ſtatt gefunden. Es iſt aber gleichwohl dem Gehoͤr angenehm, wenn alle Abſchnitte ei- ner Rede, ſo nach einander folgen, faſt einerley Laͤnge ha- ben, ſo daß die Zunge nach gewiſſen beſtimmten Pulsſchlaͤ- gen gleichſam zu einer periodiſchen Ruhe kommt. So ſind die Pſalmen der Hebreer, auch ſo gar in unſrer Deutſchen U- berſetzung noch beſchaffen; daher es denn kommt, daß ſie auch ſo proſaiſch nach einer gewiſſen freyen Melodie geſun- gen werden koͤnnen. Die aͤlteſten Griechiſchen Poeten ha- ben freylich ihre Sylben ſchon genauer nachgezehlt, als die Orientaliſchen; allein mehr laͤßt uns doch die Rauhigkeit, der alles in ſeinem erſten Urſprunge unterworfen iſt, von ihren erſten Liedern nicht hoffen.
Der andre Grad des Wohlklanges entſtund wohl da- mahls, als man bey dem Singen ſolcher aufs genaueſte ab- gezehlten Zeilen, wahrnahm, daß in einer jeden Zeile nach
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Das X. Capitel
weiß. Auſſer obgedachten Scribenten kan man auch das
III. Cap. des II. Theils meiner Redekunſt nachſehen, wo im
17. §. davon gehandelt worden.
Wie nun die gebundne Schreibart eher als die unge-
bundne ins Geſchicke gebracht worden, alſo koͤnnen wir
auch den Wohlklang der Poeſie nicht von dem Wohlklan-
ge der Redner herleiten. Es iſt bereits oben bey andrer
Gelegenheit gedacht worden, daß Cicero das Gegentheil
angemercket, wenn er erzehlt, daß Jſocrates den Poeten
vieles abgelernet, was zur Lieblichkeit einer Rede was bey-
tragen kan. Die Urſache ſetzt er auch hinzu; nemlich weil
die erſten Dichter zugleich Saͤnger und Spielleute gewe-
ſen, und ihre Verſe alſo zur Beluſtigung der Ohren ge-
macht, ſo haͤtten ſie eher auf die Harmonie zu ſehen Anlaß
gehabt. Die Muſic hilft uns alſo den Urſprung des poe-
tiſchen. Wohlklanges erklaͤren. Jch habe ſchon in dem er-
ſten Capitel erwehnet, daß die erſten Melodeyen eine gewiſſe
Anzahl der Sylben, oder eine abgemeſſene Laͤnge der Zei-
len, in den Liedern erfordert; wodurch ſie geſchickt gewor-
den, darnach abgeſungen zu werden. Das war nun der
allergeringſte Grad des poetiſchen Wohlklanges, der auch
bey den groͤbſten Voͤlckern ſtatt gefunden. Es iſt aber
gleichwohl dem Gehoͤr angenehm, wenn alle Abſchnitte ei-
ner Rede, ſo nach einander folgen, faſt einerley Laͤnge ha-
ben, ſo daß die Zunge nach gewiſſen beſtimmten Pulsſchlaͤ-
gen gleichſam zu einer periodiſchen Ruhe kommt. So ſind die
Pſalmen der Hebreer, auch ſo gar in unſrer Deutſchen U-
berſetzung noch beſchaffen; daher es denn kommt, daß ſie
auch ſo proſaiſch nach einer gewiſſen freyen Melodie geſun-
gen werden koͤnnen. Die aͤlteſten Griechiſchen Poeten ha-
ben freylich ihre Sylben ſchon genauer nachgezehlt, als die
Orientaliſchen; allein mehr laͤßt uns doch die Rauhigkeit, der
alles in ſeinem erſten Urſprunge unterworfen iſt, von ihren
erſten Liedern nicht hoffen.
Der andre Grad des Wohlklanges entſtund wohl da-
mahls, als man bey dem Singen ſolcher aufs genaueſte ab-
gezehlten Zeilen, wahrnahm, daß in einer jeden Zeile nach
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/332>, abgerufen am 24.11.2024.
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