Viertens schicket sich diese Schreibart in die Schau- spiele. Da kommen unzehliche Gelegenheiten vor, die Per- sonen in vollen Affecten aufzuführen, und da können sie nicht nachdrücklicher, beweglicher und durchdringender reden, als in dieser pathetischen Art des Ausdruckes. Hier kan man Terentii Comödien nachschlagen, und die Frantzösischen Tragödien zu Hülfe nehmen, so von Corneille und Racine herkommen. Schwache Geister können diese Schreibart auch hier nicht erreichen, und lassen alle ihre Helden gar zu sinnreich reden. Sie können nicht weinen, ohne die spitz- fündigsten Klagen dabey auszuschütten, und wenn sie ver- zweifeln, so geschieht es allezeit mit grosser Scharfsinnig- keit. Lohenstein hat es in seiner Sophonisbe durchgehends so gemacht, weswegen er von Hn. Bodmern in s. Gedan- cken von der Beredsamkeit mit Recht getadelt worden. Se- neca hat ebenfalls tausend Fehler wieder diese Regeln be- gangen.
Das wäre nun kürtzlich, was man von der poetischen Schreibart überhaupt, und ihren besondern Gattungen sa- gen kan. Die angeführten Scribenten werden das übri- ge hinzu setzen, wenn man sie nachschlagen will. Jch sollte noch kürtzlich von den Gattungen der Schreibart handeln, die in Schäfer-Gedichten, Satiren, Schertz-Gedichten, u. s. w. herrschet Allein das alles spare ich in die Capi- tel des andern Theils dieser Dichtkunst, wo ins besondre davon gehandelt werden wird. Uberhaupt schliesse ich dieß Capitel mit Horatii Worten:
Scribendi recte, sapere est & principium & fons. Rem tibi Socraticae poterunt ostendere chartae, Verbaque praevisam rem non invita sequentur.
Das
Das XI. Capitel.
Viertens ſchicket ſich dieſe Schreibart in die Schau- ſpiele. Da kommen unzehliche Gelegenheiten vor, die Per- ſonen in vollen Affecten aufzufuͤhren, und da koͤnnen ſie nicht nachdruͤcklicher, beweglicher und durchdringender reden, als in dieſer pathetiſchen Art des Ausdruckes. Hier kan man Terentii Comoͤdien nachſchlagen, und die Frantzoͤſiſchen Tragoͤdien zu Huͤlfe nehmen, ſo von Corneille und Racine herkommen. Schwache Geiſter koͤnnen dieſe Schreibart auch hier nicht erreichen, und laſſen alle ihre Helden gar zu ſinnreich reden. Sie koͤnnen nicht weinen, ohne die ſpitz- fuͤndigſten Klagen dabey auszuſchuͤtten, und wenn ſie ver- zweifeln, ſo geſchieht es allezeit mit groſſer Scharfſinnig- keit. Lohenſtein hat es in ſeiner Sophonisbe durchgehends ſo gemacht, weswegen er von Hn. Bodmern in ſ. Gedan- cken von der Beredſamkeit mit Recht getadelt worden. Se- neca hat ebenfalls tauſend Fehler wieder dieſe Regeln be- gangen.
Das waͤre nun kuͤrtzlich, was man von der poetiſchen Schreibart uͤberhaupt, und ihren beſondern Gattungen ſa- gen kan. Die angefuͤhrten Scribenten werden das uͤbri- ge hinzu ſetzen, wenn man ſie nachſchlagen will. Jch ſollte noch kuͤrtzlich von den Gattungen der Schreibart handeln, die in Schaͤfer-Gedichten, Satiren, Schertz-Gedichten, u. ſ. w. herrſchet Allein das alles ſpare ich in die Capi- tel des andern Theils dieſer Dichtkunſt, wo ins beſondre davon gehandelt werden wird. Uberhaupt ſchlieſſe ich dieß Capitel mit Horatii Worten:
Scribendi recte, ſapere eſt & principium & fons. Rem tibi Socraticae poterunt oſtendere chartae, Verbaque praeviſam rem non invita ſequentur.
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Das XI. Capitel.
Viertens ſchicket ſich dieſe Schreibart in die Schau-
ſpiele. Da kommen unzehliche Gelegenheiten vor, die Per-
ſonen in vollen Affecten aufzufuͤhren, und da koͤnnen ſie nicht
nachdruͤcklicher, beweglicher und durchdringender reden, als
in dieſer pathetiſchen Art des Ausdruckes. Hier kan man
Terentii Comoͤdien nachſchlagen, und die Frantzoͤſiſchen
Tragoͤdien zu Huͤlfe nehmen, ſo von Corneille und Racine
herkommen. Schwache Geiſter koͤnnen dieſe Schreibart
auch hier nicht erreichen, und laſſen alle ihre Helden gar zu
ſinnreich reden. Sie koͤnnen nicht weinen, ohne die ſpitz-
fuͤndigſten Klagen dabey auszuſchuͤtten, und wenn ſie ver-
zweifeln, ſo geſchieht es allezeit mit groſſer Scharfſinnig-
keit. Lohenſtein hat es in ſeiner Sophonisbe durchgehends
ſo gemacht, weswegen er von Hn. Bodmern in ſ. Gedan-
cken von der Beredſamkeit mit Recht getadelt worden. Se-
neca hat ebenfalls tauſend Fehler wieder dieſe Regeln be-
gangen.
Das waͤre nun kuͤrtzlich, was man von der poetiſchen
Schreibart uͤberhaupt, und ihren beſondern Gattungen ſa-
gen kan. Die angefuͤhrten Scribenten werden das uͤbri-
ge hinzu ſetzen, wenn man ſie nachſchlagen will. Jch ſollte
noch kuͤrtzlich von den Gattungen der Schreibart handeln,
die in Schaͤfer-Gedichten, Satiren, Schertz-Gedichten,
u. ſ. w. herrſchet Allein das alles ſpare ich in die Capi-
tel des andern Theils dieſer Dichtkunſt, wo ins beſondre
davon gehandelt werden wird. Uberhaupt ſchlieſſe ich dieß
Capitel mit Horatii Worten:
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/330>, abgerufen am 24.11.2024.
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