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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XI. Capitel
nus schon oben erwehnet worden; und man kan ihm noch
den Tragischen Seneca an die Seite setzen. Das macht,
beyde waren Spanier von Geburt, und liebten von Natur
die schwülstige Art des Ausdruckes. Unerhörte Vergrös-
serungen kosten ihnen nichts. Z. E. Lucanus schreibt im
5ten Buche.

Tunc quoque tanta maris moles creuisset in astra,
Ni superum rector pressisset nubibus vndas.

d. i. Auch damahls würde die ungestüme See bis an die
Sterne aufgeschwollen seyn, wenn nicht Jupiter die Wel-
len mit den Wolcken beschweret und niedergedrücket hätte.
Das ist ihm noch nichts. Den Cato scheut er sich nicht
allen seinen Göttern entgegen zu setzen, ja vorzuziehen, in-
dem er ihn zum Gönner und Beförderer der guten und ge-
rechten Sache Pompeji macht, den Göttern aber Schuld
giebt, daß sie dem boshafften Cäsar beygestanden. Es heist
gleich im ersten Buche:

Nec quemquam jam ferre potest Caesarue priorem,
Pompejusue parem. Quis iustius induit arma?
Scire nefas. Magno se iudice quisque tuetur.
Victix caussa Diis placuit; sed victa Catoni.

Des stoltzen Cäsars Geist kan keinen höhern leiden,
Pompejus keinen gleich. Wer hat nun wohl von beyden
Das beste Recht zum Streit? die Antwort fällt hier schwer,
Weil beyde durch den Schutz sehr großer Richter kriegten:
Den Sieger schützte GOtt, und Cato den Besiegten.

Muß denn nun die Begierde hoch zu dencken und zu schreiben
einen Poeten zu der Ausschweifung verleiten, daß er einem
bloßen Menschen mehr Weisheit, Liebe zur Gerechtigkeit,
und mehr Billigkeit, als der Gottheit selbst, gesetzt, daß es
auch nur eine heydnische wäre, zuschreiben dörfe? Die Stoi-
cker wusten ihren weisen Mann nicht höher zu loben, als wenn
sie ihn Gott ähnlich machten, ja ihn einen Freund der Götter
nennten. Lucanus erhebt den Cato auf den göttlichen Thron,
und setzt die Götter nicht etwa an die Stelle Catonis; nein,
das wäre zu viel Ehre vor sie; an die Stelle der ungerechte-
sten Richter, die allen Bösewichtern beystehen. Denn er

sagt

Das XI. Capitel
nus ſchon oben erwehnet worden; und man kan ihm noch
den Tragiſchen Seneca an die Seite ſetzen. Das macht,
beyde waren Spanier von Geburt, und liebten von Natur
die ſchwuͤlſtige Art des Ausdruckes. Unerhoͤrte Vergroͤſ-
ſerungen koſten ihnen nichts. Z. E. Lucanus ſchreibt im
5ten Buche.

Tunc quoque tanta maris moles creuiſſet in aſtra,
Ni ſuperum rector preſſiſſet nubibus vndas.

d. i. Auch damahls wuͤrde die ungeſtuͤme See bis an die
Sterne aufgeſchwollen ſeyn, wenn nicht Jupiter die Wel-
len mit den Wolcken beſchweret und niedergedruͤcket haͤtte.
Das iſt ihm noch nichts. Den Cato ſcheut er ſich nicht
allen ſeinen Goͤttern entgegen zu ſetzen, ja vorzuziehen, in-
dem er ihn zum Goͤnner und Befoͤrderer der guten und ge-
rechten Sache Pompeji macht, den Goͤttern aber Schuld
giebt, daß ſie dem boshafften Caͤſar beygeſtanden. Es heiſt
gleich im erſten Buche:

Nec quemquam jam ferre poteſt Caeſarue priorem,
Pompejusue parem. Quis iuſtius induit arma?
Scire nefas. Magno ſe iudice quisque tuetur.
Victix cauſſa Diis placuit; ſed victa Catoni.

Des ſtoltzen Caͤſars Geiſt kan keinen hoͤhern leiden,
Pompejus keinen gleich. Wer hat nun wohl von beyden
Das beſte Recht zum Streit? die Antwort faͤllt hier ſchwer,
Weil beyde durch den Schutz ſehr großer Richter kriegten:
Den Sieger ſchuͤtzte GOtt, und Cato den Beſiegten.

Muß denn nun die Begierde hoch zu dencken und zu ſchreiben
einen Poeten zu der Ausſchweifung verleiten, daß er einem
bloßen Menſchen mehr Weisheit, Liebe zur Gerechtigkeit,
und mehr Billigkeit, als der Gottheit ſelbſt, geſetzt, daß es
auch nur eine heydniſche waͤre, zuſchreiben doͤrfe? Die Stoi-
cker wuſten ihren weiſen Mann nicht hoͤher zu loben, als wenn
ſie ihn Gott aͤhnlich machten, ja ihn einen Freund der Goͤtter
nennten. Lucanus erhebt den Cato auf den goͤttlichen Thron,
und ſetzt die Goͤtter nicht etwa an die Stelle Catonis; nein,
das waͤre zu viel Ehre vor ſie; an die Stelle der ungerechte-
ſten Richter, die allen Boͤſewichtern beyſtehen. Denn er

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[296/0324] Das XI. Capitel nus ſchon oben erwehnet worden; und man kan ihm noch den Tragiſchen Seneca an die Seite ſetzen. Das macht, beyde waren Spanier von Geburt, und liebten von Natur die ſchwuͤlſtige Art des Ausdruckes. Unerhoͤrte Vergroͤſ- ſerungen koſten ihnen nichts. Z. E. Lucanus ſchreibt im 5ten Buche. Tunc quoque tanta maris moles creuiſſet in aſtra, Ni ſuperum rector preſſiſſet nubibus vndas. d. i. Auch damahls wuͤrde die ungeſtuͤme See bis an die Sterne aufgeſchwollen ſeyn, wenn nicht Jupiter die Wel- len mit den Wolcken beſchweret und niedergedruͤcket haͤtte. Das iſt ihm noch nichts. Den Cato ſcheut er ſich nicht allen ſeinen Goͤttern entgegen zu ſetzen, ja vorzuziehen, in- dem er ihn zum Goͤnner und Befoͤrderer der guten und ge- rechten Sache Pompeji macht, den Goͤttern aber Schuld giebt, daß ſie dem boshafften Caͤſar beygeſtanden. Es heiſt gleich im erſten Buche: Nec quemquam jam ferre poteſt Caeſarue priorem, Pompejusue parem. Quis iuſtius induit arma? Scire nefas. Magno ſe iudice quisque tuetur. Victix cauſſa Diis placuit; ſed victa Catoni. Des ſtoltzen Caͤſars Geiſt kan keinen hoͤhern leiden, Pompejus keinen gleich. Wer hat nun wohl von beyden Das beſte Recht zum Streit? die Antwort faͤllt hier ſchwer, Weil beyde durch den Schutz ſehr großer Richter kriegten: Den Sieger ſchuͤtzte GOtt, und Cato den Beſiegten. Muß denn nun die Begierde hoch zu dencken und zu ſchreiben einen Poeten zu der Ausſchweifung verleiten, daß er einem bloßen Menſchen mehr Weisheit, Liebe zur Gerechtigkeit, und mehr Billigkeit, als der Gottheit ſelbſt, geſetzt, daß es auch nur eine heydniſche waͤre, zuſchreiben doͤrfe? Die Stoi- cker wuſten ihren weiſen Mann nicht hoͤher zu loben, als wenn ſie ihn Gott aͤhnlich machten, ja ihn einen Freund der Goͤtter nennten. Lucanus erhebt den Cato auf den goͤttlichen Thron, und ſetzt die Goͤtter nicht etwa an die Stelle Catonis; nein, das waͤre zu viel Ehre vor ſie; an die Stelle der ungerechte- ſten Richter, die allen Boͤſewichtern beyſtehen. Denn er ſagt

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/324>, abgerufen am 24.11.2024.