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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XI. Capitel

Was die Briefe anlangt, die poetisch abgefaßt wer-
den, so haben sie eben diese natürliche Schreibart nöthig.
So hat Horatius die seinigen geschrieben, ja ich könnte auch
Ovidium hier anführen, wenn dessen seine Sendschreiben
nicht alle besser zu den Elegien gehöreten. Jm Frantzösi-
schen ist Boileau ein Meister darinnen; Jm Deutschen aber
hat Opitz diese Schreibart sehr wohl inne gehabt, Flemming
und Canitz habens ihm gleich gethan, Neukirch und Gün-
ther aber ihn weit übertroffen. Jch will zur Probe aus Neu-
kirchs Schreiben der Aurora an den König von Preussen
etwas hersetzen.

Jch schreibe König hier, was man bey Hofe klagt,
Was meinen Ruhm verletzt, wie fast ein jeder sagt.
Ach zürne nicht zu früh, denn unsers Geistes Triebe,
Sind zwar voll Eifersucht, allein auch voller Liebe.
Es ist nichts grausames, womit du uns beschwerest,
Wir klagen daß du dich vor andre selbst verzehrest,
Daß du ein König bist, und doch in deinen Landen
Kein Diener je gelebt der früher aufgestanden.
Die Hirten sind erstaunt, die Musen schämen sich,
Denn beyde finden schon, so bald sie wachen, dich.
Mein Phöbus, der dir doch so hertzlich wünscht zu dienen,
Jst selber, wie du weist, stets viel zu spät erschienen,
Und fuhr mich heute noch mit rauhen Worten an,
Daß ich der Wolcken Flor nicht früher abgethan.
Was Phöbus an mir straft, geb ich mit gleichem Blicke
Der Ordnung der Natur und dieser Welt zurücke.
Was nützt mir, sprech ich offt, der hellen Flügel Schein,
Wenn Helden flüchtiger als Licht und Flügel seyn?
Allein was die Natur mich läßt zur Antwort hören,
Jst dieß, ich möchte doch nicht ihr Gesetze stören. etc.

Hier herrscht ebenfalls das natürliche ungekünstelte Wesen,
der poetischen Schreibart; obwohl alles edel und artig ge-
dacht und gesagt worden. Denn man muß die natürliche
Schreibart durchaus nicht mit der niederträchtigen vermi-
schen. Sie sind wie Tag und Nacht von einander unter-
schieden, und solches zu erweisen, darf ich mich nur auf
Exempel beruffen. Von Erzehlungen dieser Art, will ich
aus Riederers Fabeln Esopi die LXV. hersetzen, wiewohl
sie alle gleich geschickt dazu wären. Es heißt:

Ein
Das XI. Capitel

Was die Briefe anlangt, die poetiſch abgefaßt wer-
den, ſo haben ſie eben dieſe natuͤrliche Schreibart noͤthig.
So hat Horatius die ſeinigen geſchrieben, ja ich koͤnnte auch
Ovidium hier anfuͤhren, wenn deſſen ſeine Sendſchreiben
nicht alle beſſer zu den Elegien gehoͤreten. Jm Frantzoͤſi-
ſchen iſt Boileau ein Meiſter darinnen; Jm Deutſchen aber
hat Opitz dieſe Schreibart ſehr wohl inne gehabt, Flemming
und Canitz habens ihm gleich gethan, Neukirch und Guͤn-
ther aber ihn weit uͤbertroffen. Jch will zur Probe aus Neu-
kirchs Schreiben der Aurora an den Koͤnig von Preuſſen
etwas herſetzen.

Jch ſchreibe Koͤnig hier, was man bey Hofe klagt,
Was meinen Ruhm verletzt, wie faſt ein jeder ſagt.
Ach zuͤrne nicht zu fruͤh, denn unſers Geiſtes Triebe,
Sind zwar voll Eiferſucht, allein auch voller Liebe.
Es iſt nichts grauſames, womit du uns beſchwereſt,
Wir klagen daß du dich vor andre ſelbſt verzehreſt,
Daß du ein Koͤnig biſt, und doch in deinen Landen
Kein Diener je gelebt der fruͤher aufgeſtanden.
Die Hirten ſind erſtaunt, die Muſen ſchaͤmen ſich,
Denn beyde finden ſchon, ſo bald ſie wachen, dich.
Mein Phoͤbus, der dir doch ſo hertzlich wuͤnſcht zu dienen,
Jſt ſelber, wie du weiſt, ſtets viel zu ſpaͤt erſchienen,
Und fuhr mich heute noch mit rauhen Worten an,
Daß ich der Wolcken Flor nicht fruͤher abgethan.
Was Phoͤbus an mir ſtraft, geb ich mit gleichem Blicke
Der Ordnung der Natur und dieſer Welt zuruͤcke.
Was nuͤtzt mir, ſprech ich offt, der hellen Fluͤgel Schein,
Wenn Helden fluͤchtiger als Licht und Fluͤgel ſeyn?
Allein was die Natur mich laͤßt zur Antwort hoͤren,
Jſt dieß, ich moͤchte doch nicht ihr Geſetze ſtoͤren. ꝛc.

Hier herrſcht ebenfalls das natuͤrliche ungekuͤnſtelte Weſen,
der poetiſchen Schreibart; obwohl alles edel und artig ge-
dacht und geſagt worden. Denn man muß die natuͤrliche
Schreibart durchaus nicht mit der niedertraͤchtigen vermi-
ſchen. Sie ſind wie Tag und Nacht von einander unter-
ſchieden, und ſolches zu erweiſen, darf ich mich nur auf
Exempel beruffen. Von Erzehlungen dieſer Art, will ich
aus Riederers Fabeln Eſopi die LXV. herſetzen, wiewohl
ſie alle gleich geſchickt dazu waͤren. Es heißt:

Ein
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[292/0320] Das XI. Capitel Was die Briefe anlangt, die poetiſch abgefaßt wer- den, ſo haben ſie eben dieſe natuͤrliche Schreibart noͤthig. So hat Horatius die ſeinigen geſchrieben, ja ich koͤnnte auch Ovidium hier anfuͤhren, wenn deſſen ſeine Sendſchreiben nicht alle beſſer zu den Elegien gehoͤreten. Jm Frantzoͤſi- ſchen iſt Boileau ein Meiſter darinnen; Jm Deutſchen aber hat Opitz dieſe Schreibart ſehr wohl inne gehabt, Flemming und Canitz habens ihm gleich gethan, Neukirch und Guͤn- ther aber ihn weit uͤbertroffen. Jch will zur Probe aus Neu- kirchs Schreiben der Aurora an den Koͤnig von Preuſſen etwas herſetzen. Jch ſchreibe Koͤnig hier, was man bey Hofe klagt, Was meinen Ruhm verletzt, wie faſt ein jeder ſagt. Ach zuͤrne nicht zu fruͤh, denn unſers Geiſtes Triebe, Sind zwar voll Eiferſucht, allein auch voller Liebe. Es iſt nichts grauſames, womit du uns beſchwereſt, Wir klagen daß du dich vor andre ſelbſt verzehreſt, Daß du ein Koͤnig biſt, und doch in deinen Landen Kein Diener je gelebt der fruͤher aufgeſtanden. Die Hirten ſind erſtaunt, die Muſen ſchaͤmen ſich, Denn beyde finden ſchon, ſo bald ſie wachen, dich. Mein Phoͤbus, der dir doch ſo hertzlich wuͤnſcht zu dienen, Jſt ſelber, wie du weiſt, ſtets viel zu ſpaͤt erſchienen, Und fuhr mich heute noch mit rauhen Worten an, Daß ich der Wolcken Flor nicht fruͤher abgethan. Was Phoͤbus an mir ſtraft, geb ich mit gleichem Blicke Der Ordnung der Natur und dieſer Welt zuruͤcke. Was nuͤtzt mir, ſprech ich offt, der hellen Fluͤgel Schein, Wenn Helden fluͤchtiger als Licht und Fluͤgel ſeyn? Allein was die Natur mich laͤßt zur Antwort hoͤren, Jſt dieß, ich moͤchte doch nicht ihr Geſetze ſtoͤren. ꝛc. Hier herrſcht ebenfalls das natuͤrliche ungekuͤnſtelte Weſen, der poetiſchen Schreibart; obwohl alles edel und artig ge- dacht und geſagt worden. Denn man muß die natuͤrliche Schreibart durchaus nicht mit der niedertraͤchtigen vermi- ſchen. Sie ſind wie Tag und Nacht von einander unter- ſchieden, und ſolches zu erweiſen, darf ich mich nur auf Exempel beruffen. Von Erzehlungen dieſer Art, will ich aus Riederers Fabeln Eſopi die LXV. herſetzen, wiewohl ſie alle gleich geſchickt dazu waͤren. Es heißt: Ein

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/320>, abgerufen am 24.11.2024.